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Geflüchteter an der belarussisch-polnischen Grenze.

© imago

„Pushback“ ist Unwort des Jahres: Ein Begriff als Brandmal für Europa

Die „Sprachkritische Aktion“ erklärt „Pushback“ zum Unwort des Jahres. Es geht weniger um den Ausdruck als um eine menschenverachtende Praxis. Ein Kommentar.

Tagelang irrte die kurdische Familie durch das polnisch-belarussische Grenzgebiet. Avin Irfan Zahir, 38-jährige Mutter von fünf Kindern, war schwanger. Als Aktivisten sie im vergangenen November im Wald fanden, betrug ihre Körpertemperatur 27 Grad, der Fötus in ihr lebte nicht mehr. Kurz darauf starb auch sie. Am vergangenen Samstag wurde die Leiche eines drei Jahre alten Kindes an einem Strand der griechischen Insel Naxos angespült. Es trug einen an einer Kette befestigten Schnuller, ein bedrucktes Lätzchen und eine blau gestreifte Socke am rechten Fuß.

Zwei von tausenden Toten an den EU-Außengrenzen. Nicht nur haben Schutzsuchende keine sicheren Fluchtwege, vielfach werden sie aktiv abgewehrt. So auch in Polen und Griechenland.

Die Jury der „Sprachkritischen Aktion“ hat „Pushback“ zum Unwort des Jahres 2021 erklärt. Mit dem Begriff werde ein menschenfeindlicher Prozess des Zurückdrängens von Flüchtenden an den Grenzen durch Europas Grenztruppen beschönigt, begründete die Sprachwissenschaftler:innen am Mittwoch in Marburg die Wahl. Er verharmlose einen Vorgang, der Hilfesuchenden die Möglichkeit nehme, das Menschen- und Grundrecht auf Asyl wahrzunehmen und verschleiere Gewalt und Tod, die mit der Abwehr von Migrant:innen verbunden seien. Eine gute und wichtige Wahl, doch diesmal geht es offensichtlich um mehr als sprachkritische Reflexion.

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Die Jury besteht aus den Sprachwissenschaftler:innen Kristin Kuck, Martin Reisigl, David Römer und Constanze Spieß sowie der freien Journalistin Katharina Kütemeyer. Den jährlich wechselnden Mitgliederplatz besetzte in diesem Jahr der Tagesspiegel-Redakteur Harald Schumann. 454 verschiedene mögliche Unworte waren eingereicht worden, wovon nur 45 den Kriterien der Jury entsprachen. Laut eigener Aussage zielen diese auf den „sprachkritischen Blick auf Wörter und Formulierungen in allen Feldern der öffentlichen Kommunikation, die gegen sachliche Angemessenheit oder Humanität verstoßen.“

Was die Verantwortlichen bei den meisteingesandten Vorschlägen verneinten: Allein 287 Mal, mit Abstand am häufigsten, wurde „Tyrannei der Ungeimpften“ vorgeschlagen. Es folgten „illegaler Kindergeburtstag“ mit 71 und „Querdenker“ mit 47 Nennungen.

Auf dem Meer gibt es kein Zurück mehr

In der Linguistik wird zwischen Signifikant und Signifikat unterschieden. Ersteres bezeichnet die Ausdruckseite, zweiteres die Inhaltsseite. Bezeichnendes und Bezeichnetes. Eine willkürliche Buchstabenfolge wird erst durch die Kombination mit einer Vorstellung über deren Bedeutung verknüpft.

So klingt „Pushback“ zunächst harmlos. Ursprünglich stammt der Anglizismus aus der Luftfahrt. Dort bezeichnet er das Zurücksetzen eines Flugzeuges an einem Flugsteig. Erst seit einigen Jahren wird damit in Politik und Medien die meist illegale Zurückweisung von Schutzsuchenden an Grenzen bezeichnet.

Anders als bei „Corona-Diktatur“, Unwort des Jahres 2020, ist der technokratische Begriff zwar auch verharmlosend, doch dürfte die Jury mit ihrer Wahl vor allem auf die Praxis abzielen. So sind Fälle bekannt, in denen europäische Grenzschützer die Außenbordmotoren von Schlauchbooten beschädigten und die Besatzung manövrierunfähig zurückließen oder Geflüchtete in Rettungsinseln aufs offene Meer hinauszogen. Hier gibt es kein Zurück mehr, wie „Pushback“ suggeriert.

Es ist ein Begriff, der wie ein Brandmal ein Europa anprangert, das noch immer die Bekämpfung der Geflüchteten der Beseitigung von Fluchtursachen vorzieht. Solange grundlegende Menschenrechte an den EU-Außengrenzen missachtet werden, ist „Pushback“ weit mehr als ein Unwort: es ist eine Untat.

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