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Publizist und Philologe: Zum Tod von Walter Jens

Er bespielte die Öffentlichkeit auf so vielen Bühnen, er verstummte tragisch: Zum Tod des großen Gelehrten Walter Jens - ein Nachruf.

Er verkörperte die Einheit von Wissenschaftler und Dichter, Essayist und Dramatiker, Redner und Geschichtsschreiber wie einst Lessing, Nicolai oder Schlegel. Mit Walter Jens, der nun am Sonntag mit 90 Jahren in Tübingen gestorben ist, nimmt ein Schriftstellertypus seinen endgültigen Abschied, den die deutsche Literatur erst im 18. Jahrhundert hervorgebracht hat, in ihr aber immer ein Fremdling geblieben ist. Ziemlich weit muss man in der deutschen Kulturgeschichte zurückgehen, ehe man die Wurzeln dieser vielfältigen Profession wiederfindet.

Ein deutscher Professor und zugleich ein glanzvoller Redner? Ein Altphilologe, Mitglied der Gruppe 47 und Fernsehkritiker? Walter Jens ist zeit seines Lebens eine Provokation geblieben, Provokation der akademischen Pedanterie. Provokation für einen Kulturbetrieb, der mit hängender Zunge der Mode hinterherläuft. Für Jens, den Professor und Rhetor und Autor, gehörte alles zusammen: die Nacherzählung der „Ilias“ und der „Odyssee“ und der experimentelle Roman „Herr Meister“, die Neuübertragung der „Orestie“ und das Fernsehspiel über Rosa Luxemburg, die Vorlesung über antike Rhetorik und die Rede zum 75. Geburtstag des Deutschen Fußballbundes.

Walter Jens überzeugte mit „Beredsamkeit des Glaubens an der Grenze von Gewissheit und Zweifel“

Gegenwärtigkeit hat nichts mit Mode zu tun, die Heimkehr des siegreichen und doch verlorenen Agamemnon von der trojanischen Schlächterei ist ein ebenso ergreifendes Vexierbild unserer Existenz wie die Ermordung der roten Rosa. Diese Wirksamkeit gehört zum Werk von Walter Jens, ist nicht ablösbar von seinen literarischen und wissenschaftlichen Veröffentlichungen, sondern deren Substanz. Und es gehört seine Tätigkeit als Lehrer dazu, der sich dabei nicht an Zunftgrenzen hielt, über Goethe oder Fontane ebenso hinreißende Vorlesungen hielt wie über Sophokles oder Euripides. Nicht zu vergessen der überzeugte Christ mit seiner „Beredsamkeit des Glaubens an der Grenze von Gewissheit und Zweifel“, der oft den Lehrstuhl mit der Kanzel vertauschte, Gast des deutschen Pfarrertages war und jahrzehntelang an einer neuen Bibelübersetzung arbeitete.

Auch darin radikal, an die Wurzeln des Glaubens gehend, Text und Schrift prüfend („Die Evangelisten als Schriftsteller“), durch alle Augendienerei, alle Verfälschungen und Masken hindurch zu einer neuen Wirklichkeit Gottes: „Ein Prediger, der von Gott sprechen will, muss von der Welt reden, von der Lebenswirklichkeit und dem Hier und Heute des Menschen: Hat Jesus von Nazareth anders geredet?“ Auch als Christ ist Jens Aufklärer geblieben.

Es gibt einen Roman, 1952 erschienen, eine melancholische Geschichte, die das Hauptmotiv von Jens’ Leben und Werk vielleicht am klarsten zum Ausdruck bringt: „Vergessene Gesichter“. Ein altes Schloss inmitten eines verwilderten Parks, ein Altersheim für ausgediente Bühnenkünstler. In dem zugigen Treppenhaus begegnen der Verwalter Auguste und der Hausdiener Pierre einem alten Mann mit weißem Haar. Auguste redet ihn freundlich an, Pierre sieht gelangweilt zur Seite und wird belehrt: „Du könntest gern etwas höflicher sein, Pierre … Wie oft soll ich dir noch sagen, dass dieser Mann der größte Hamlet war, der jemals auf einer Bühne gestanden hat? Auguste hatte die Stimme erhoben und sprach wie ein alter Studienrat bei der Erwähnung der Heldentaten des Kaisers Augustus. Aber er war sehr traurig und erbost.“ Eine beiläufige Episode, sie enthält aber schon das Modell des ganzen Buchs.

Wie ein Vexierbild erscheint darin das Porträt des Schriftstellers Jens. „Ich trage meine Maske immer“, erläutert der Richter in Jens’ erstem Roman „Nein – Die Welt der Angeklagten“: „Niemand im Richterkollegium, niemand im Rat der Fünf, nicht einmal der Präsident selbst kennt mein Gesicht.“

"Dabei blieb er persönlich immer auf Distanz, der Umgang mit ihm war oft schwierig."

Poeta doctus und homo politicus. Walter Jens im Dezember 1979 beim SPD-Parteitag in Berlin. Foto: Martin Athenstädt/p-a/dpa
Poeta doctus und homo politicus. Walter Jens im Dezember 1979 beim SPD-Parteitag in Berlin. Foto: Martin Athenstädt/p-a/dpa

© picture alliance / dpa

Maske und Gesicht, Täuschung und Wahrheit: In den Essays und Reden, den politischen und literarischen Aufsätzen steigert sich dieses Motiv zur kritischen Idee. „Praeceptor Germaniae: Axel Caesar Springer“, „Ehrenrettung eines Kritikers: Sixtus Beckmesser“, „Reaktionäre Beredsamkeit: Adam Müller“ – schon in der Struktur vieler Titel taucht das Muster auf, das dann konsequent durchgeführt wird: „Dies ist das eine: Ein Stilkünstler wird zum Kopisten. Das andere: je älter Nietzsche wird, desto schriller tönt seine Rede. Die Worte hören auf, die Dinge zu decken, und das Unisono der Proklamation verweist am Ende nur noch auf sich selbst. Da wird geschrieen und kommandiert; Bramarbas hält Hof, und Harlekin, ein Fratzenschneider im Hermelin, spielt ,Lieber Gott’.“ An dieser Stelle verbindet sich die kritische Denkfigur wieder mit der ihr angemessensten Metapher vom Welttheater, von der Geschichte als einem Schauspiel und den Individuen als seinen Akteuren. Wie viel an geheimem Bekenntnis in diesen Texten steckte, hat die Öffentlichkeit erst spät erfahren.

Unvergessen aber wird für alle ehemaligen Zuhörer, für die Studenten und sein Tübinger Bürgerauditorium, sein „Literarisches Colloquium“ bleiben. Sechzig Minuten lang jede Semesterwoche wurde der größte Hörsaal der Tübinger Universität zur Stätte der modernen deutschen Literatur, wurden ihre Inhalte, Praktiken und Regeln analysiert, ihre Themen, Stile und Tendenzen sichtbar.

Walter Jens stammte aus einem bürgerlichen Elternhaus

Die Versammelten erfuhren, was Literatur sein kann, ein spannendes Spiel, das nach strengen Regeln verfährt. Sie erfuhren, dass auch in diesen modernen, ihnen oft unverständlichen Büchern, in den Romanen Hermann Brochs, in den Erzählungen Arno Schmidts, in den Gedichten Paul Celans und den Hörspielen Ingeborg Bachmanns keine fremden Geschichten erzählt wurden, sondern ihre eigenen, und was ihnen dunkel daran erschien, wurde erhellt.

Dabei blieb er persönlich immer auf Distanz, der Umgang mit ihm war oft schwierig, denn er war, hinter aller seiner nie versiegenden Beredsamkeit ein unsicherer, daher schwieriger Mann. Man merkte die hamburgische Herkunft, das solide, auf Abstand bedachte bürgerliche Elternhaus (der Vater Bankangestellter, die Mutter Lehrerin), die erstklassige Erziehung (in der Gelehrtenschule des Johanneums), das altphilologische Studium. Und Jens verstand es auch, sich die andrängende Welt vom Leibe zu halten, gerade wenn er sich mit ihr einließ, im Streit, in der politischen Arena, im Gemenge mit Kollegen.

Der Präsident des deutschen Pen-Zentrums, später, im Prozess der Wiedervereinigung, der Präsident der Berliner Akademie der Künste, der begehrte Redner auf Tagungen und Kongressen, dieser rhetorische Hansdampf fühlte sich am wohlsten zu Hause, in Tübingen, das er als die Gelehrtenrepublik, die Polis am Neckar rühmte und schließlich sogar Hamburg vorzog, als man ihn dort auf die extra für ihn geschaffene Lessing-Professur berufen wollte. Oben über der Stadt liegt sein Haus, mit dem Blick über die Dächer und Kirchen in die Weite, bis hin zur schwäbischen Alb.

2003 tauchte eine Karteikarte von 1942, die seine Mitgliedschaft in der NSDAP bezeugte.

Ein streitbarer Geist. Walter Jens, ehemaliger Präsident der Berliner Akademie der Künste, ist im Alter von 90 Jahren gestorben.
Ein streitbarer Geist. Walter Jens, ehemaliger Präsident der Berliner Akademie der Künste, ist im Alter von 90 Jahren gestorben.

© dpa

Dieser abgeschirmte Bereich, das Leben mit seiner Frau Inge, einer promovierten Germanistin und bewährten Editorin, die konzentrierte Arbeit am Schreibtisch, die Unzugänglichkeit der Gelehrtenexistenz: Das waren die Voraussetzungen seiner öffentlichen Wirksamkeit. Ein bürgerliches Leben, nicht nur seinem Zuschnitt, sondern gerade seiner Struktur nach: Die private und die gesellschaftliche Sphäre gehörten zusammen und blieben doch getrennt.

Die Vergangenheit holt Walter Jens 2003 ein

Wie radikal, musste er gegen Ende seines Lebens erfahren, als 2003 eine Karteikarte von 1942 auftauchte, die seine Mitgliedschaft in der NSDAP bezeugte. Er war damals 19 Jahre alt, die Umstände, die diesen Schritt motivierten, sind dunkel geblieben bis heute. Die ihn vorher hofiert hatten, fielen nun über ihn her: der linke Aufklärer, der Lessing- und Heine-Preisträger, wurde als Heuchler denunziert, als hätte er nicht längst durch sein Wirken als Anwalt bürgerlicher Freiheit, Toleranz und Rechtlichkeit, als sozialer Demokrat und Beförderer republikanischer Kultur die Torheit von einst hundertmal aufgewogen. Er hatte die Erinnerung daran längst verloren, weil er sie verlieren wollte.

Der von ihm über alles verehrte Lessing hat ein hier einschlägiges Gleichnis gefunden, das Jens immer gerne zitierte, ohne zu ahnen, dass es ihm einmal als Zuflucht dienen könnte: „Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! Ich fiele mit Demuth in seine Linke und sagte: Vater gieb! die reine Wahrheit ist doch nur für Dich allen!“

Die Familie hat auf Lessing’sche Bescheidenheit nicht viel gegeben. Zuletzt hat sie den seit 2004 offiziell Demenzkranken zum Ausstellungsstück gemacht. Inge Jens mag mit ihren Auskünften über den Pflegealltag noch Verständnis für die Situation der Angehörigen geweckt haben. Sohn Tilman aber, der 2008 zunächst mit „Demenz – Abschied von meinem Vater“ und zwei Jahre später mit „Vatermord – Wider einen Generalverdacht“ zwei umstrittene Bücher publiziert hat, hielt mit keinem noch so intimen Detail zu Walter Jens’ Leiden hinter dem Berg.

Der Autor war von 1988 bis 2009 Nachfolger von Walter Jens am Tübinger Lehrstuhl für Rhetorik.

Gert Ueding

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