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Auch Kirchen sind von den Einschränkungen betroffen. Pfarrer Don Giuseppe Corbari vor den Selfies seiner Gemeindemitglieder.

© Luca Bruno/dpa

Psychologie und Pandemie: Wie verhalten sich Gesellschaften in der globalen Krise?

Der kanadische Wissenschaftler Steven Taylor hat die Psychologie einer Pandemie-Gefahr untersucht. Es ist nicht weniger als eine Pionierarbeit.

Von Caroline Fetscher

All die Begriffe, die aufgeregte Gesellschaften rund um den Globus gerade lernen, wandern ruhig und wie selbstverständlich durch dieses Buch. Darin ist die Rede von Virentypen und Infektionswellen, von sozialer Distanzierung, Quarantäne, Isolation, Jobverlust, Herdenschutz und Superspreadern. Im Dezember 2019 erschienen, kam das Buch zeitgleich mit dem Auftauchen der ersten Corona-Fälle in China, als hätte der Autor es geahnt. Das konnte er freilich nicht.

Der kanadische Psychologe Steven Taylor, Professor an der University of British Columbia in Vancouver, forscht schon lange über Stress, Angst, Gesundheit und Gesellschaft. Hier legte er nun ungeplant eins der Bücher zur Stunde vor, seine Studie zur Psychologie von Pandemien („The Psychology of Pandemics. Preparing for the Next Global Outbreak of Infectious Disease“. Cambridge Scholars Publishing, Newcastle upon Tyne, Dezember 2019, 178 Seiten).

Taylors Publikation füllt, wie renommierte Fachleute ihr sofort bescheinigten, eine eklatante Forschungslücke. Auch der Autor selber erklärt seine große Verwunderung darüber, dass zwar klinisch viel geforscht wird zu Pandemien, doch deren sozialpsychologische Dynamik dabei enorm vernachlässigt wird. An der interdisziplinären Schnittstelle zwischen Virologie, Epidemiologie, Immunologie, Soziologie, Medizingeschichte, Verhaltensforschung und Psychologie arbeitet sich Taylor durch eine Serie essentiellen Fragen, die akuter kaum sein könnten. Wie gehen Gesellschaften, Individuen, Gesundheitssysteme und Medien mit Pandemien um?

Anfangs mussten mythische Erklärungen herhalten

Und wer kommuniziert was, wann und wie? Wie werden Informationen gesammelt, ausgewertet und mitgeteilt? Welchen Bedarf an Information und Fürsorge entwickeln welche Gruppen? Was für Ängste, Gerüchte, Verschwörungstheorien entstehen, wo, warum, in welchem Ausmaß? Wie begegnen Medizin, Politik und Medien diesen Phänomenen optimal? Was muss sich ändern an Gesundheitssystemen, damit sie besser auf Pandemien vorbereitet sind?

Ausgehend von der Geschichte der großen Pandemien entfaltet Taylor das Panorama dieser kollektiv erfahrenen Herausforderungen von ihrem Ursprung her. Begonnen haben sie offenbar etwa um das Jahr 1000 vor unserer Zeitrechnung mit der Ära der Viehhaltung, als Viren von Tieren auf Menschen übergingen – wie jetzt auf dem Markt im chinesischen Wuhan – und menschliche Organismen auf solche Viren nicht vorbereitet waren. Anfangs mussten mythische Erklärungen herhalten.

Das Hinraffen vieler durch eine neue, unbekannte Erkrankung geschah, nahm man an, weil Götter oder Geister erzürnt waren, Sündenböcke wurden gesucht, Quacksalberei und Aberglauben blühten. Gerüchte, wie sie jetzt durchs Netz brodeln und Stigmatisierungen von Minderheiten – das gab es zu allen analogen Zeiten. Bis wissenschaftlicher Fortschritt sich Bahn brach, gab es nichts anderes.

Sozialpsychologie ist unerlässlich für das Krisenmanagement

Experten der Weltgesundheitsorganisation, die Taylor eingangs zitiert, erklären: „Pandemien sind häufig markiert durch Verunsicherung, Verwirrung und ein Empfingen von Dringlichkeit.“ Umso befremdlicher, dass den psychischen Phänomenen, die zu Pandemien gehören, bislang so wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Sozialpsychologische Kenntnis, so Taylor, sei unerlässlich für das Management pandemischer Krisen, und seine Darstellung lässt das mehr als deutlich werden. Denn so gut auch immer das medizinische Wissen, es muss in die Bevölkerung gelangen, wie es jetzt allmählich in die Gesellschaft einsickert.

Prototypische Pandemien wie Cholera, Pest, Grippe, wurden schon früher beobachtet und dokumentiert, so weisen historische Quellen und berühmte Fälle Taylor anfangs den Weg. Einer der bekannten Superspreader der Geschichte war „Typhoid Mary“, eine mit Typhus infizierte Köchin in New York, die zwischen 1902 und 1909 rund fünfzig Menschen ansteckte, bis sie in polizeilich angeordnete Zwangsquarantäne geschickt wurde. Sie hatte sich schlicht geweigert, anzuerkennen, dass sie infiziert und infektiös war, wenngleich in allen Haushalten und Restaurants, in den sie arbeitete, die Menschen reihenweise erkrankten.

Sollen Pandemien eingedämmt und besiegt werden, geht es um die Psyche, um Emotionen, Affekte und vor allem um Kommunikation. Medizin und Politik müssen kooperieren und eine Weile lang informativ amalgamieren, um optimale Resultate zu erlangen. Eine zentrale Herausforderung liegt darin, Bedrohungen und Risiken weder zu überschätzen noch zu unterschätzen, und informationell entsprechend zu agieren wie zu reagieren.

Gefährliche Fakten im Informationszeitalter

Gerade das Informationszeitalter mit dem enormen Potential, sehr viele Menschen so gut und rasch wie möglich aufzuklären, birgt andererseits die Gefahr, dass auch irrende, esoterische und fehlleitende Botschaften in die parallele Angst-Epidemie eindringen. Wissensressourcen zu bündeln und zu vermitteln, damit Verhaltensregeln plausibel werden und flächendeckend Wirkung entfalten, gehört zu den politischen und medizinischen Prioritäten.Das Nichtbefolgen von Regeln, wie jüngst noch bei sogenannten „Corona-Partys“ zu beobachten, gehört ebenfalls zur Erfahrung mit Pandemien wie etwa der Spanischen Grippe.

Um gesellschaftliche Solidarität herzustellen, muss es Politik und Medizin gemeinsam gelingen, übertriebene Ängste wie übertriebene Hoffnungen einzuhegen, die gleichermaßen irreführend sind. Von einer Pandemie betroffene Gesellschaften müssen schnell und unvorbereitet lernen, sich Risiken zu stellen, Umsicht zu entwickeln und mit dem Verzicht auf Routinen zurechtzukommen, nicht zuletzt – bei Ausgangssperren – mit dem Verzicht auf die tröstliche Routine von kulturellen Riten und religiösen Versammlungen.

Kulturelle Unterschiede spielen eine Rolle

Politik und Behörden sollten im Auge haben, wie enorm die Differenzen der Herausforderung für verschiedene Milieus und Gruppen sein können, je nach kultureller Prägung oder Bildungsniveau. In den Blick genommen werden sollten Stressoren wie die Angst um die eigene Gesundheit und die der Angehörigen, Ängste, die sich je nach Vorbelastung völlig anders darstellen können. Das Buch von Steven Taylor macht deutlich: Es gibt ausgewiesene Expertisen für den Umgang mit fast allem, was die Gesellschaft aktuell bedrängt und was sie braucht.

Indes weben wir, teils schon sehr gut und effektiv, einen Flickenteppich aus Maßnahmen, Ratschlägen, Handlungsanweisungen und Präventionsideen. Vieles liegt in Taylors Buch bereits systematisch und fundiert vor, das durchaus als Leitfaden gelten darf, nicht nur für den Umgang mit Angst, Isolation und Quarantäne, mit dem Stress in Großgruppen und den Antworten auf Angst. So rasch wie möglich sollte das Buch als E-Book verfügbar sein, was es offenbar noch nicht ist, und übersetzt werden in möglichst viele Sprachen.

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