zum Hauptinhalt
Vor der Amirkabir-Universität in Teheran stoßen Demonstranten und Polizisten aufeinander.

© dpa

Proteste in Teheran: Nicht länger in der Lüge leben

Nach dem Abschuss des Passagierflugzeugs: Immer mehr iranische Künstler stellen sich gegen die Mullahs.

Der Absturz der ukrainischen Passagiermaschine in der vergangenen Woche könnte ein Wendepunkt für den Iran werden, auch für die kulturelle Szene des Landes. Nachdem der Gottesstaat eingeräumt hatte, dass die Revolutionsgarden den Flug PS572 kurz nach dem Start auf dem Teheraner Flughafen „versehentlich“ vom Himmel holten, verwandelte sich die Staatstrauer um den getöteten Kommandeur der Revolutionsgarden Ghasem Soleimani in eine nationale, nackte Wut. Eine Reihe unterschiedlicher Gruppen reagierte mit Empörung, unter anderem die Künstler und Künstlerinnen.

Nur wenige Stunden nach der Bestätigung der iranischen Regierung schrieb die berühmte Filmemacherin Rakhshan Bani-Etemad auf Twitter: „Warum schämt sich niemand für diese Lügen und für die Toten dieses Flugs? Wieso tritt niemand zurück?“ Bani-Etemad gewann 2014 bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig den Preis für das beste Drehbuch für den Film „Geschichten aus Teheran“, der von sozialen und kulturellen Konflikten in der iranischen Gesellschaft erzählt.

Regisseurin kurzzeitig verhaftet

Die Regisseurin und Drehbuchautorin rief in den nächsten Tagen über ihren Instagram-Account die Bevölkerung zu Protesten auf. Am Montagabend wurde sie dann verhaftet. Die Festnahme einer prominenten Filmkünstlerin ist selbst für iranische Verhältnisse ein Ausnahmefall. Nach wenigen Stunden ließ man sie aufgrund der Intervention mehrerer Personen wieder frei.

Kurz vor der Festnahme der 65-jährigen Bani-Etemad hatte schon der Verband der iranischen Drehbuchautoren in einer Pressemitteilung einen Prozess gegen diejenigen verlangt, die für den Flugzeugabschuss verantwortlich sind: „Wir hätten uns gewünscht, die Geschichte dieser Opfer, die nur 300 Sekunden gedauert hat, erzählen zu dürfen.“

Tot nach 300 Sekunden

Der iranische Künstler Barbad Golshiri sagte dem Tagesspiegel: „Viele Künstler möchten über dieses Ereignis etwas Künstlerisches leisten. Sie wissen aber, dass es aufgrund der Zensur nicht möglich ist.“ Schon am Abend nach dem Eingeständnis der iranischen Führung, das Flugzeug abgeschossen zu haben, kamen viele Leute vor der Amirkabir-Universität in Teheran zusammen, um die Opfer zu betrauern. Dabei waren auch mehrere Künstler: Jafar Panahi, der 2015 den Goldenen Bär der Berlinale gewonnen hat, Reza Dormishian, einer der profiliertesten Regisseure der neuen Generation des iranischen Kinos, und natürlich Rakhshan Bani-Etemad.

Die Reaktionen auf das Verhalten der iranischen Regierung beschränken sich nicht auf die Filmleute. Am selben Tag verkündeten die Jurys der Bereiche Grafik- und Keramikdesign des prestigeträchtigen Fajr-Festivals, dass sie nicht mehr mit den Veranstaltern kooperieren wollten. Darauf folgte die Jury des Illustrations- und dann des Fotografie-Bereiches.

Boykott des Fajr-Festivals

Am späten Abend zeigte sich, dass Jurymitglieder aller Bereiche der Bildenden Kunst geschlossen ihren Rücktritt vom Festival angekündigt hatten. Das Fajr-Festival, beworben als Brücke zwischen westlicher und östlichen Kultur, ist das größte Kunstfestival im Iran. Es findet immer im Februar während des Jubiläums der Islamischen Revolution von 1979 statt. Mehrere Theatergruppen haben ihre Stück zurückgezogen.

Das außergewöhnlich harte Vorgehen gegen Rakhshan Bani-Etemad war kein Einzelfall. Im Laufe der nächsten Tage erhöhte der iranische Sicherheitsapparat den Druck auf die Künstlerinnen und Künstler.

Druck durch den Sicherheitsapparat

Sie wurden einbestellt, angerufen und erhielten Warnungen, bloß nicht das staatliche Festival zu boykottieren. Die Einschüchterung wirkte. Mehrere Künstler und Jurymitglieder des Festivals sagten ihre bereits vereinbarten Interviews mit dem Tagesspiegel ab. Sie begründeten die Absage mit der angespannten Lage. Am Samstagabend und am Montag wurden mehrere Betroffene, die angekündigt hatten, am Festival nicht mehr teilnehmen zu wollen, von den Sicherheitskräften bedroht. Einige löschten daraufhin ihre Beiträge in den sozialen Medien.

Schon im November des vergangenen Jahres hatte es landesweite Proteste gegeben, bei denen bis zu 1500 Menschen gestorben sein sollen. Darauf reagierte die Kunstszene kaum. Warum jetzt und noch dazu so heftig? „Weil den iranischen Kulturschaffenden der Kragen geplatzt ist“, sagt der Bildhauer Barbad Golshiri. „Wenn wir weitermachen wie bisher, werden wir zu denjenigen gehören, die die Situation schönfärben und als normal darstellen. Wir wollen all das, was passiert, nicht rechtfertigen.“

Wichtigstes Filmfestival im Iran

Der beliebteste Teil des Fajr-Festes ist das Internationale Filmfestival, es gilt als bedeutendste Veranstaltung der iranischen Filmindustrie. Dieses Jahr geht es aber nicht mehr um Filmkunst, sondern darum, wer dort überhaupt noch seinen Film zeigen will. Als einer der ersten Regisseure hat Masoud Kimiai abgesagt. Der 79-Jährige wird häufig als Pionier der Neuen Welle des iranischen Kinos bezeichnet. Er wollte seinem Film „Es wurde blutig“ präsentieren. Doch in einer Videonachricht auf Instagram erklärte er: „Ich habe mich nie nach Festivals gerichtet, sondern immer nach der Bevölkerung. Ich teile das Leid der Menschen und möchte nicht, dass mein Film gezeigt wird".

Auch Schauspieler haben ihre Teilnahme abgesagt, darunter: Peyman Maadi, Hauptdarsteller in Asghar Farhadis Film „Eine Trennung“; Sara Bahrami, die beim Fajr–Festival 2018 den Preis als beste Schauspielerin gewonnen hat. Und Saeid Aghakhani, der andere Preisträger des vergangenen Jahres.

Solidarität mit der Bevölkerung

Am Telefon interpretiert der Filmkritiker Amir Pouria diese Entscheidungen als Beileidsbekundung: „Künstler solidarisieren sich mit der Bevölkerung. Das Land trauert um die Opfer des Flugzeugabsturzes – und diejenigen, denen das egal ist, verlieren an Popularität.“ Der Filmemacher Abdolreza Kahani, 2009 Gewinner des Regiepreises beim Fajr-Festival, sagt: „Wie kann man von einem ,Fest’ sprechen, wenn das Land von Trauer überwältigt ist? Diejenigen, die am Festival teilnehmen, trauen sich wirklich, ihre Preise der Bevölkerung zu zeigen?"

Dass der Konflikt in der iranischen Kulturlandschaft ein beispielloses Ausmaß erreicht hat, zeigt der Rücktritt von zwei Moderatorinnen des Staatsfernsehens. Der Rundfunk im Iran ist ein staatliches System, dessen Mitarbeiter nicht wegen ihrer Qualifikationen ausgesucht werden, sondern aufgrund ihrer Treue gegenüber der Islamischen Republik.

Keine Lust auf ein Fest

Eine dieser regimetreuen Mitarbeiterinnen ist Sahra Khatamirad, die 1981 in Aachen geboren wurde. Sie arbeitet seit 2005 im Fernsehen und ist durch die Moderation eines Jugendprogramms bekannt geworden. Am vergangenen Samstag schrieb sie auf Instagram: „Danke, dass ihr mich bis heute als Moderatorin akzeptiert habt. Ich werde nie wieder zum Fernsehen zurückkehren. Verzeiht mir.“ Ihren Post hat sie mit den Hashtags #Lüge und #IchWillInformieren beendet.

Ihrem Beispiel ist Saba Rad gefolgt, die 21 Jahre fürs staatliche Radio und Fernsehen gearbeitet hatte. Sie bedankte sich bei den „lieben Leuten“ und schrieb bestürzt: „Ich kann es nicht mehr.“ Inzwischen hat Rad ihren Beitrag gelöscht. Das Mitleid, das die Künstlerinnen und Künstler für die einfachen Leute empfinden, hat politische und gesellschaftliche Folgen.

Fernsehmoderatorinnen haben gekündigt

Es wird den Iran verändern. Barbard Golshiri sagt kämpferisch: „Es gibt einen Punkt, an dem man sich entscheiden muss, auf welcher Seite man stehen will. Iranische Kulturschaffende können es vor sich nicht mehr verantworten, an der Seite eines Beamten des Ministeriums für Kultur und islamische Führung zu stehen.“

Golshiri, Sohn des iranischen Schriftstellers Huschang Golschiri, der in den neunziger Jahren auf der Todesliste des Gottesstaates stand, zitiert den tschechischen Autor und Politiker Václav Havel: „Wo die Lüge ein Land regiert, ist Wahrheit Opposition“ und fügt hinzu: „Die Islamische Republik hat eine enorme Lüge verbreitet. Diese Lüge verpflichtet die Künstler, Position zu beziehen.“

Omid Rezaee

Zur Startseite