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Feministischer Protest in Istanbul.

© Foto: Bulent Kilic/AFP

Proteste gegen türkische Regierung: Das Flüstern der Hoffnung

In der Türkei stellt sich ein breites Bündnis von Frauen, Queers und Studierenden gegen die zunehmend frauen- und homofeindliche Politik der Regierung.

Aus dem Türkischen von Yontu Diker. Ebru Nihan Celkan, 1979 in Adana geboren, ist Autorin und Dramatikerin. Sie gibt außerdem Workshops zu Diversity und Gendergerechtigkeit. Celkan lebt in Berlin und Istanbul.

„Alles kann einem Menschen genommen werden, nur eines nicht: die letzte der menschlichen Freiheiten – unter den gegebenen Umständen die eigene Einstellung zu wählen, den eigenen Weg zu wählen.“ (Viktor Emil Frankl)

Dieser Satz des österreichischen Holocaustüberlebenden und Psychiaters kommt mir häufig in den Sinn, wenn ich derzeit an die Türkei denke. Der sich tagtäglich verdichtende nationalistisch-konservative Konsens erinnert mich daran, seine zum Teil sehr wortgewaltige, zum Teil wortlose Sprache, die die Bürger*innen des Landes immer weiter ihrer Spielräume beraubt, aber auch der Widerstand der Frauen und der LGBTIQ-Bewegung. Das beengende Klima nimmt seinen Anfang in der Sprache.

Wo die Presse größtenteils zum Sprachrohr der Regierung geworden ist, können die Mächtigen nach Belieben die Bedeutung von Begriffen definieren. So wurde etwa die Istanbul-Konvention kurzerhand zum „Fremden“ erklärt und begleitet von Gerüchten um eine „lokale und nationale“ Alternative wurde der Austritt aus der Konvention im Amtsblatt veröffentlicht.

Doch es gibt eine vielfältige oppositionelle Bewegung, die dafür sorgt, dass sich die Machthaber auch nach 20 Jahren ununterbrochener Regierungszeit nicht zur Gänze als Herr der Lage empfinden. Die überwiegende Mehrheit dieser oppositionellen Bestrebungen hat sich nach dem Widerstand im Gezi-Park von der Straße zurückgezogen, ihren Kampf aber auf unterschiedlichen Ebenen fortgeführt. Es gibt allerdings auch Frauen, LGBTIQ-Personen, Feminist*innen, die weiterhin auf den Straßen und Plätzen des Landes demonstrieren.

Und die Frauenbewegung der Türkei wächst täglich, zu ihren Farben gesellen sich neue, ihre Stimmen vermehren sich. Die Frauen werden Teil dieses Gleichstellungskampfes und integrieren ihre anderweitigen Identitäten in diese Bestrebung. Denn Frauen wissen seit Langem, dass männliche Gewalt nicht nach Sprachen, Religionen, Ethnien, wirtschaftlichen oder kulturellen Klassen, Bildungsstand und Alter unterscheidet.

In ihrer jetzigen Form umarmt die Frauenbewegung wie ein riesiger Regenbogen all jene, die dem grobschlächtigen, aggressiven, einfarbigen, nationalistisch-konservativen Block entgegentreten. Sie sehen sich einer Geisteshaltung gegenüber, die diesen Kampf, der nicht in Schubladen gesteckt werden kann, mit dem Austritt aus einer Konvention beantwortet, die den Frauen die Unversehrtheit von Leib und Leben zusichert.

Nicht die Türkei trat aus, es war ein Mann

Es ist nicht die Türkei, die aus der Konvention ausgetreten ist. Es ist ein Mann, der einer politischen Partei vorsteht, der gleichzeitig Staatspräsident ist, welcher bei Nacht und Nebel seinen Wunsch aus der Konvention auszutreten mittels einer Veröffentlichung im Amtsblatt kundgetan hat. Es ist mir ein Anliegen, diesen Unterschied deutlich zu machen, denn würde man den in der Türkei lebenden Menschen Gehör verschaffen, wären wir mit einem anderen Bild konfrontiert.

Das Meinungsforschungsinstitut Metropol hat in einer im Juli 2020 veröffentlichten Untersuchung gezeigt, dass 63,6 Prozent der Wähler*innen, die die Istanbul-Konvention kennen, einen Austritt nicht befürworten. Der Anteil an AKP-Wähler*innen, die einen Austritt nicht befürworten, lag bei 49,7 Prozent. Nur 53,2 Prozent der Befragten war die Istanbul-Konvention überhaupt ein Begriff. Damit stellt sich Frage, wie denn bei so großer Zustimmung zur Konvention ein solcher Schritt gegangen werden konnte.

Da es dem Regierungsblock nicht gelungen ist, die Frauenbewegung zum Feindbild zu erklären, hat er die Homo- und Transphobie wiederbelebt und gestärkt. In der Konvention war die Rede von sexueller Orientierung und Genderidentität, somit konnte sie aus Regierungssicht nicht „lokal und national“ sein, denn in der Türkei existierten schließlich keine Homosexuellen und trans Personen seien von außerhalb importiert worden. Die Konvention legitimiere, ja sie fördere sogar diese „Perversion“.

Eine Demonstrantin in Istanbul.
Eine Demonstrantin in Istanbul.

© Ozan Kose/AFP

Auch die Regenbogenfahnen in den Händen von Studierenden, die in letzter Zeit an der Bozaziçi-Universität von Istanbul demonstrierten, wurden systematisch zur Zielscheibe gemacht. So bezeichnete etwa Innenminister Süleyman Soylu vier Demonstrierende als „ widernatürliche LGBT-Anhänger“, die an der Bozaziçi-Universität „eine Respektlosigkeit gegenüber der heiligen Kaaba begangen haben“. Bis zur Veröffentlichung des Austritts aus der Istanbul-Konvention gab es unentwegt solche diskriminierenden Äußerungen von höchsten Stellen.

Staatspräsident Recep Tayyip Erdozan sagte etwa beim Kongress der Frauenorganisation seiner Partei: „Der Grundpfeiler der Familie ist die Mutter. Hört nicht auf das, was Euch diese Lesben sagen, lasst uns auf unsere Mütter schauen. Gemeinsam mit diesen Müttern werden wir sicheren Schrittes in die Zukunft schreiten.“

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Als weitere Argumente, die den Austritt aus der Konvention legitimieren sollten, wurde angeführt: Sie habe zur Benachteiligung von Männern und zu vermehrten Scheidungen geführt. Auch habe die Zahl der Frauenmorde nach der Konvention zugenommen. Ein Teil dieser so genannten Argumente entbehrt jeder faktischen Grundlage, der andere Teil liegt in der Verantwortung der Regierung selbst, die alles daran gesetzt hat die Anforderungen der Konvention – außer im Ratifizierungsjahr 2011 – nicht umzusetzen.

Warum aber wurde die Konvention, von der heute behauptet wird, dass sie nicht „lokal und national“ sei, überhaupt unterzeichnet? Es war eine Folge der Verurteilung der Türkei durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Nahide Opuz zwei Jahre vor Unterzeichnung der Istanbul-Konvention. Das Gericht verurteilte den türkischen Staat zu Entschädigungszahlungen an Nahide Opuz, die, obwohl sie sieben Jahre lang Anzeige um Anzeige bei der Staatsanwaltschaft erstattete, nicht vor familiärer Gewalt geschützt wurde. In der Geschichte des Gerichts war dies der erste Fall, in dem ein Staat mit dieser Begründung verurteilt wurde.

Hasstiraden, Verhaftungen und Polizeigewalt

Dieses Urteil gab den Anstoß dafür, dass die Türkei sich entschloss, als erstes Land die Konvention zu unterzeichnen, ja sich seinerzeit sogar mit der Vorreiterstellung des Staates in dieser Frage zu rühmen. Die Konvention wurde am 24. November 2011 in der Großen Nationalversammlung der Türkei mit 246 von 247 Stimmen bei einer Enthaltung durch das Gesetz mit der Nummer 6251 ratifiziert. Somit war die Türkei das erste Land, dessen Parlament der Konvention zustimmte.

Wenn der Staatspräsident heute sagt, dass wir „genauso austreten können wie wir eingetreten sind“, stimmt das nicht. Es wurde nicht so ausgetreten wie eingetreten. Die Verfassungsrechtsprofessorin Serap Yazaca antworte kürzlich im Interview mit der Deutschen Welle auf die Frage „Ist es denn möglich, dass der Staatspräsident per Dekret aus der Konvention austritt?“ mit einem klaren „Nein“.

Sie erklärte das mit dem „Prinzip der Parallelität bei Kompetenzen und Prozessen“. Einfach gesagt bedeutet das, dass ein Organ, das zu einer bestimmten Entscheidung befähigt ist, auch das Organ ist, das diese Entscheidung wieder rückgängig machen kann. Die gleichen Prozessregeln gelten in beide Richtungen. Juristisch gesehen ist also die Große Nationalversammlung der Türkei, die die Istanbul-Konvention ratifiziert hat, die Institution, die auch den Austritt aus derselben beschließen kann.

Die Frauen- und LGBTIQ-Bewegung, hat von Anfang gegen den Austritt aus der Istanbul-Konvention Widerstand geleistet. Dem schlagen von national-konservativer Seite Hasstiraden, Verhaftungen und Polizeigewalt entgegen. Die von der Regierung systematisch in Umlauf gebrachten homofeindlichen Äußerungen findet bei jeder Veranstaltung zur Istanbul-Konvention ihre Antwort in zahlreichen Regenbogenfahnen und Transfahnen. Bei jeder Protestaktion werden die Fahnen eingesammelt als seien sie Beweisstücke eines Verbrechens. Doch für jede Fahne, die in Gewahrsam genommen wird, wehen bald fünf neue.

Aktivistinnen mit Protestschildern.
Aktivistinnen mit Protestschildern.

© Umit Bektas/Reuters

Alle Erklärungen, die von Frauenorganisationen abgegeben werden, schließen LGBTIQ-Personen unmissverständlich mit ein und betonen den inklusiven Geist der Istanbul-Konvention. Die Aktionen auf den Straßen gehen weiter und stemmen sich gegen alle Entzweiungsbemühungen. Das Motto lautet „Entweder zusammen oder gar nicht.“ Weder der von rechten Medien und AKP-Parlamentarier*innen proklamierte Antagonismus „Feminist*innen vs. LGBTIQ“, noch „Säkulare vs. Religiöse“ funktioniert.

Der gemeinsame Widerstand gläubiger muslimischer Jugendlicher und muslimischer Feminist*innen gegen die Diskriminierung und Stigmatisierung von queeren Personen im Zuge der Proteste an der Bozaziçi-Universität flüstert uns die Hoffnung einer anderen Zukunft ein. Die negativen Gefühle der Nacht, in der die Nachricht vom Austritt bekannt wurde, haben sich zügig in einen noch entschiedeneren Widerstand transformiert. Die Frauen- und LGBTIQ-Bewegung der Türkei transformiert sich weiter und transformiert weiterhin das Land. Die oktroyierte totale Autorität der Regierenden wird kontinuierlich erschüttert durch Frauen und queere Menschen, die sich mit demokratischen Mitteln zur Wehr setzen.

Was aber können Sie tun, die Sie dies hier lesen? Öffnen Sie einfach Ihre Ohren, Ihre Augen, Ihr Herz der vielstimmigen, bunten, vielsprachigen, vielfältigen, leidenschaftlichen Opposition des Landes und nicht den Offiziellen in Amt und Würden. Indem Sie dies tun, können Sie ihrem Wort, ihrem Widerstand, ihrer Hoffnung Nachdruck verleihen und diese vermehren. Trotz der jahrelang aufgezwungenen Einfalt und des Unitarismus, ist die Türkei heute vielfältiger, vielstimmiger, bunter und solidarischer denn je.

Ebru Nihan Celkan

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