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Wunsch nach Zugehörigkeit. Eine Szene aus "Protagonist" mit dem schwedischen Cullbergbaletten. Choreograf Jefta van Dinther lebt in Berlin.

© Urban Jörén

„Protagonist“ im HAU: Schlaflos im Club

Einsamkeit, Sex und die ausbleibende Revolution: Jefta van Dinther und Cullbergbaletten erkunden im HAU die verborgenen Sehnsüchte hedonistischer Nachtgewächse.

Von Sandra Luzina

Verdammt cool wirken sie, die 15 jungen Tänzer des schwedischen Cullbergbaletten aus Stockholm, wie sie in Shorts und Hotpants über die Bühne des Hebbel-Theaters tigern. Jedenfalls auf den ersten Blick. Doch Choreograf Jefta van Dinther blickt in „Protagonist“ hinter diese Fassade aus lässiger Coolness und legt verborgene Sehnsüchte und Zweifel dieser Nachtgewächse frei. Van Dinther, der mittlerweile in Berlin lebt, ist momentan einer der angesagtesten Choreografen der europäischen Tanzszene. In Zukunft wird er auch mit dem Staatsballett Berlin ein Stück erarbeiten. „Protagonist“ ist bereits die zweite Zusammenarbeit mit der schwedischen Vorzeige-Kompanie, deren Tänzer starke Individuen sind.

Das Setting mit dem blutroten Samtboden erinnert an einen Nachtclub, doch Jefta van Dinther geht es beileibe nicht darum, nur den Hedonismus der Jugend und sexuelle Vielfalt zu feiern. „Protagonist“ ist vielmehr eine düstere Clubbing-Elegie. Seine Tänzer sind von einer fiebrigen Unruhe erfüllt, scheinen selbst nicht zu wissen, wonach sie suchen. Die Armbewegungen, die im Verlauf des Stücks variiert werden, muten meist hart und eckig an. Manchmal schreiben die Tänzer auch asymmetrische Schleifenmuster in den Raum. Oder sie stürzen sich mit aller Vehemenz auf einen anderen Körper. Seltsam ruppig wirken diese Paarungen, die Tänzer ziehen und zerren aneinander und lassen bald wieder voneinander ab.

Einsamkeit und Entfremdung

Ob Zweier-, Dreier- oder Sechserkonstellation: Die Möglichkeiten, sich zu vergnügen, werden durchgespielt. Auch Assoziationen zu sexuellen Rollenspielen werden wach. Einige der Tänzer knien auf allen vieren und deuten Gesten der Unterwerfung an, andere stehen aufrecht, halten die Zügel in der Hand. So wird eine dominante Frau von mehreren Tänzern wie von einem Rudel junger Hunde umringt und angestupst. Gleich, denkt man, geht die Gruppenorgie los. Doch solche Erwartungen werden von Jefta van Dinther enttäuscht. Das Verlangen läuft ins Leere. Zurück bleibt ein Gefühl der Einsamkeit und Entfremdung. „Protagonist“ erzählt von dem Wunsch nach Zugehörigkeit, aber auch von den Schwierigkeiten, stabile Verbindungen einzugehen, ein Kollektiv zu formen, das von einem gemeinsamen Ziel zusammengehalten wird.

Die Tanzperformances von Jefta van Dinther kreisen immer um intensive Zustände, die unterschiedliche Steigerungsgrade annehmen können. Er nimmt sich viel Zeit, um das innere Rumoren, dieses ziellose Verlangen, erfahrbar zu machen. Ein Aufruhr, dem die Tänzer überzeugend Ausdruck verleihen.

Der Ruf nach Revolution verpufft ganz schnell

Was sofort in den Bann zieht, ist die Stimme von Elias Sahlin. Der schwedische Sänger und Songwriter ist Anfang 20, klingt aber wie ein 50-jähriger schwarzer Soulsänger. Er hat mehrere Songs für das Stück komponiert; zu hämmernden Rhythmen singt er von schlaflosen Nächten und innerer Dunkelheit, spricht auch die intimen und poetischen Texte, die Jefta van Dinther für „Protagonist“ geschrieben hat. Sie erzählen von Verzweiflung und Spaltung, einer drängenden inneren Stimme, dem Wunsch nach Heilung. Wenn dann Elias’ bekanntester Song erklingt, erheben sich die Tänzer und stimmen mit ein: „Let’s start a revolution.“ Wie aufgeputscht wirken sie von der Agitation und schleudern ihre Arme empor. Doch der Moment mündet in Ratlosigkeit. Energie, die implodiert. Die Tänzer erstarren und blicken fragend ins Publikum. Immer mehr verlieren sie ihre aufrechte Haltung, erst zieht sich eine Schulter nach unten, dann sinken sie in sich zusammen.

All den Versprechungen auf einen kommenden Aufstand ist nicht zu trauen, zeigt Jefta van Dinther. Der Ruf nach Revolution verpufft ganz schnell. Was folgt, erinnert eher an Evolution. Oder besser: Regression. Denn die Tänzer mutieren zu Primaten, streifen nach und nach die Kleider ab – und auch ihre spätkapitalistische Schwermut. Sie ahmen den gebückten Gang von Affen nach, schaukeln an Metallstangen: eine genügsame Horde, die entspannt abhängt. Dieser Schluss ist natürlich befremdlich. Was als die große Befreiung ausgegeben wird, mutet doch eher wie eine Regression an. Doch als Reflexion über Gemeinschaft und Individualität hat „Protagonist“ durchaus starke Szenen, denn Jefta von Dinther hat seine Gruppen-Tableaus sehr geschickt komponiert. Und auch die Cullberg-Tänzer vermögen zu fesseln bei diesem Trip in die Dunkelheit.

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