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Michael Thalheimer inszeniert Gorkis "Nachtasyl" an der Schaubühne.

© dpa/Stephanie Pillick

Premiere: „Nachtasyl“: Aus dem letzten Loch pfeifen

Ganz unten: Michael Thalheimer taucht mit Gorkis „Nachtasyl“ in die soziale Hölle ab – und schildert den Kampf ums nackte Überleben.

Nachdem er das Stück gesehen hatte, schrieb Tschechow in einem Brief an seinen geschätzten Kollegen Maxim Gorki, dieser werde sich wohl „von der Reputation eines Optimisten verabschieden müssen“. Schön ausgedrückt. „Die Frage ist natürlich, ob Gorki je ein Optimist war“, gibt Michael Thalheimer zu bedenken. Der Regisseur inszeniert an der Schaubühne „Nachtasyl“. Diese Szenen aus dem Leben „Ganz unten“, so die spätere, präzise verortete Umbenennung des Autors. „Zu Stückbeginn stirbt ein Mensch – und bleibt bis zum Ende auf der Bühne liegen. Wie ein Stück Dreck“, beschreibt Thalheimer die Messlatte der Entseeltheit. Und dennoch werfe Gorki keinen pessimistischen, mithin eiskalten Blick auf das Elendsquartier des Besitzers Kostylev und seiner jungen Frau Vasilisa. „Man spürt, dass er radikal beobachtet. Aber diese Radikalität findet man nur, wo noch ein Rest Hoffnung in die Menschen oder die Gesellschaft keimt.“

Bemerkenswerterweise hatten diese zersplitterten Szenen von Säufern, Kriminellen oder sonstwie Gescheiterten zu Beginn des 20. Jahrhunderts gleich einen sensationellen Erfolg. In Berlin, wo nach der Uraufführung am Moskauer Künstlertheater durch Stanislawski die deutsche Erstaufführung stattfand, strömten ab 1903 die Massen, um von der Liebe träumende Huren, prügelnde Schlosser und alkoholkranke Schauspieler beim Kampf ums nackte Überleben zu sehen. Dass dieses „Nachtasyl“ derart die Oberschicht ergreifen konnte, die damals ja das Publikum stellte, erklärt sich Thalheimer damit, „dass sie sich am Beispiel dieser untersten Menschen selbst erkannt hat. In ihrer eigenen Sinnentleertheit, Brutalität und Kälte“. Trotz teurer Wohnung, Kutsche und Abendgarderobe hätten die Gutbetuchten gespürt: „So, wie wir leben, das kann es nicht sein.“

Kein wohlfeiles Mitleid

Die Frage ist heute eher, ein paar Diskurse über das Einfühlungstheater später, ob sich Gorkis Elendsgestalten tatsächlich noch von gut bezahlten Stadttheaterschauspielern darstellen lassen. Eine ähnliche Diskussion hat Thalheimer gerade erst hinter sich. Weil er am Wiener Burgtheater Elfriede Jelineks „Die Schutzbefohlenen“ inszeniert hat, diesen Chor der Flüchtlinge, die klagen und Anklage erheben. Eine Arbeit, die im Juni auch bei den Autorentheatertagen am Deutschen Theater gastieren wird. „Natürlich ist es zu einhundert Prozent verboten, dass Schauspieler so tun, als seien sie Flüchtlinge, in dem einen Fall, oder die Gestrandeten, die Gorki beschreibt“, sagt der Regisseur entschieden und kopfschüttelnd. „Man ist es nicht. Also darf man nicht so tun, als sei man es.“ Das habe mit Wahrhaftigkeit nichts zu tun. Punkt.

Nur, auf der anderen Seite erreiche man Wahrhaftigkeit eben auch nicht, indem man tatsächliche Flüchtlinge auf die Bühne stelle. Oder „echte“ Obdachlose. Thalheimer ist auch da sehr klar: „Das ist eine verlogene Pose des Theaters, die womöglich den Kritiker beruhigt oder das eigene Gewissen. Aber tatsächlich verliert man nur eins: dass es Theater ist.“ Nicht dass der Theatermacher die Wirklichkeit aus seiner Kunst verbannen wollte. Selbstverständlich habe er sich während der Proben zu den „Schutzbefohlenen“ auch mit den Flüchtlingen ausgetauscht, „die in Wien leben und dort nach wie vor um eine Aufenthaltsbewilligung kämpfen“. Bloß weigere er sich, „jeden Gedankenfurz, den man auf der Probebühne hat, als Vorgang dem Zuschauer zu präsentieren“. Was angewendet auf seine aktuelle Inszenierung bedeutet: „Wir werden nicht den Fehler begehen, dem Zuschauer als thematischen Grundgedanken zu verkaufen: Seht her, wie schwer wir uns damit tun, uns diesem Elend zu stellen.“ Thalheimers Vehemenz rührt auch daher, dass er eine bedenkliche Mode um sich greifen sieht. „Wenn ich mir die Vorhaben von Theatern anschaue, die in München oder Berlin unter neuer Leitung eröffnen, frage ich mich: Hat sich da UNICEF mit Amnesty International, dem Kinderhilfswerk und der Flüchtlingshilfe zusammengeschlossen, um eine neue Stiftung zu gründen, die das Paradies sucht?“

Wunden und Widersprüche

Wozu er nur zu Recht zu bedenken gibt: „Das Theater übernimmt keine Verantwortung für Flüchtlinge. Auch nicht für Obdachlose. Wir können ein Bewusstsein ändern. An eine Gesellschaft appellieren. Das ist unsere Kunst.“ Und so muss man es auch verstehen, wenn Thalheimer sagt: „Ich will mit meinem Theater zu Ergebnissen kommen.“ Nicht Lösungen anbieten. Sondern Wunden und Widersprüche zeigen.
„Nachtasyl“, seine dritten Arbeit an der Schaubühne nach Tolstois „Macht der Finsternis“ und Molières „Tartuffe“, wird in einem dieser bildmächtigen Räume seines Stammbühnenbildners Olaf Altmann spielen. Einem Ort ganz unten, der feucht und schmutzig ist, wo selbst das Ungeziefer sich zurückzieht in die Dunkelheit. Man wird sich hier als Zuschauer nicht einrichten können im behaglichen Mitleid mit der depravierten Klasse. Vielmehr wird dieses lebensfeindliche Loch den Blick zurückwerfen auf die Betrachter. „Es ist heute noch viel leichter zu erkennen als um 1900“, sagt Thalheimer, „dass die Menschen in Gorkis Stück etwas über uns erzählen.“

Premiere 6.6., 20 Uhr.

Weitere Aufführungen: 8.-10., 15.-17. und 23.-25.6.

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