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Dieses Kaff ist groß genug für uns zwei: Szene aus "Der Mann, der Liberty Valance erschoss"

© Ute Langkafel/Maxim Gorki Theater

Premiere im Gorki Theater: Wenn die Lüge zur Wahrheit wird

Das Gorki Theater macht aus dem Western „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“ eine Komödie über Macht und Moral.

Dieser Western ist der perfekte Stoff fürs postfaktische Zeitalter. Ein junger idealistischer Anwalt wird als Bezwinger des Banditen Liberty Valance gefeiert, kriegt das schönste Mädchen des Saloons und legt eine beachtliche politische Karriere hin. Dass die sich die ganze Geschichte völlig anders abgespielt hat, dass seine Karriere also auf einer Lüge gründet, interessiert kein Schwein mehr. Die finale Conclusio aus John Fords Film „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“ lautet: Wenn die Legende zur Wahrheit wird, druck die Legende!

Am Gorki hat Regisseur Hakan Savas Mican sich jetzt diese Mär aus dem Wilden Westen vorgenommen, die auf die Schriftstellerin Dorothy M. Johnson zurückgeht. Die Handlung ihrer Short Story behält Mican in wesentlichen Zügen bei, die Moral von der Geschichte darf allerdings unter heutigen Vorzeichen neu gelesen werden.

Der junge Jurist Ransom Foster (Mehmet Atesçi) schlägt, nach einem Überfall übel zugerichtet, im Präriekaff Twotrees auf. Das hat Bühnenbildnerin Sylvia Rieger als hölzerne Kulissenzeile mit markanten Neonzeichen (Saloon, Hotel) und Cola-Automat auf die Drehbühne gesetzt – ein tolles Americana-Fake-Set. Es rührt, wie schon die erste Szene, in der Atesçi auf dem Videoscreen seine Wunden angeschminkt bekommt, an eine zentrale Frage des Abends: Kann man von Lüge sprechen, wo die Täuschung Teil der Verabredung ist?

Liberty stimmt am Klavier David Bowie an

Dazu passt der Aufsatz „Die Welt des Catchens“ von Roland Barthes, der im Programm zitiert wird: „Was das Publikum verlangt, ist das Bild der Leidenschaft, nicht die Leidenschaft selbst“, heißt es da über den brachialen Spektakelsport. „Ein Wahrheitsproblem gibt es beim Catchen so wenig wie beim Theater.“

Was Mican daraus ableitet, ist eine Art melancholischer Diskurswestern mit ganz eigenem Humor. Ironisch gebrochen bedient sein Ensemble die Typologie der Frontier-Gesellschaft: Taner Sahintürk gibt den knurrigen Cowboy, Lea Draeger eine umschwärmte Prärierose, Tim Porath den Chefredakteur des „Twotrees’ Star“, Volkan Türeli den musikalisch begabten Sheriff und Yousef Sweid den Banditen Liberty Valance.

Ist er der Finsterling, der im Auftrag der Viehbaronlobby den Fortschritt in Gestalt der Eisenbahn zu verhindern sucht? Oder nicht doch der Einzige in der Wüstenei mit funktionierendem moralischen Kompass? Jedenfalls gehören ihm die mit Abstand schönsten Sätze: „Ich gehe lieber als aufrechter Teufel unter – lieber an einem Galgen enden, als jeden Abend in einer Nichtraucherbar unsere Depression wegtrinken.“

Bevor sich Liberty in die ewigen Jagdgründe verabschiedet, stimmt er am Klavier noch David Bowies „This is not America“ an. Aufsteiger Ransom Foster dagegen hält der Twotrees-Gemeinde anfangs noch flammende Demokratie-Lectures über den Satz „All men are created equal“, bevor er als Hochstapler seine Politkarriere im Regen aus blau-weiß-roten Luftballons beginnt und ihm von Schulterklopfern geraten wird, rauszugehen und „Amerika groß zu machen“.

Freilich ist Mican so klug, seinen Abend geistig nicht in der Politprärie anzusiedeln, angesichts derer man gerade nur noch bilanzieren kann: Alle Menschen sind gleich erschöpft. Nein, dieser großartige „Mann, der Liberty Valance erschoss“ rührt tiefer. An unser Bedürfnis nach dem Schaukampf, der uns jenseits irgendeiner Wahrheit von Schmerz, Niederlage und Gerechtigkeit erzählt. Damit wir Unbeteiligte bleiben können.
Nächste Vorstellungen: 18. und 28. Januar, 19.30 Uhr.

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