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Der Schriftsteller Karl-Markus Gauß bei seiner Dankesrede für den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, den er in der Nikolaikirche erhielt.

© dpa

Preisverleihung in der Nicolai-Kirche in Leipzig: Für Karl-Markus Gauß ist Russlands Krieg auch einer gegen die Sprache

Im Zeichen des russischen Ukraine-Überfalls: Die Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung in der Nicolai-Kirche.

Man musste kein Prophet sein, um wissen zu können, dass die Verleihung des Leipziger Preises zur Europäischen Verständigung in der Nikolaikirche ganz im Zeichen des russischen Krieges in der Ukraine stehen würde. Schon vorher hatte es vor der Kirche eine allerdings nur mäßig frequentierte, von der Stadt Leipzig, dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels und der Nicolai-Kirche initiierte Friedensaktion mit anschließender Kundgebung gegeben, ihr Titel: „Recht auf Frieden“.

In der Kirche war in einem Seitenportal ein Banner mit einem lila-gelben Streifen und den Worten „Krieg soll - nach Gottes Willen - nicht sein" aufgehängt worden; Karin Schmidt-Friderichs, die Börsenvereinsvorsteherin, trug einen gelben Schal über ihrem dunkelblauen Anzug (und erinnerte dabei unfreiwillig an den ewigen roten Schal eines ihrer Vorgänger); und in allen Begrüßungsreden ging es natürlich um den Krieg und den Umgang Europas damit, so in der des Superintendenten und Pfarrer der Nicolai-Kirche Sebastian Feydt, in der von Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung oder bei dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer.

Gauß musste seine Rede umschreiben

Allerdings ließ die österreichische Literaturkritikerin Daniela Strigl in ihrer Laudatio kein einziges Wort über den Krieg fallen. Das war durchaus wohltuend. Sie hatte die Lobrede auf Gauß womöglich vor dem 24. Februar geschrieben, im Programm des Festaktes konnte man sie schon nachlesen.

Karl-Markus Gauß hatte jedenfalls bereits im Januar mit seiner Dankesrede begonnen, um nun in der Nicolai-Kirche anzuheben: „Was sind das für Zeiten, in denen es nicht möglich ist, eine Dankesrede auch nur zwei Wochen im Voraus zu verfassen! Kaum hat man sie schriftlich mit gebührendem Ernst und angemsener Freude verfertigt und zu Ende gebracht, wäre es schon ruchlos, sie vorzutragen, hieße es doch zu schweigen über so vieles, das seither geschehen ist.“ 

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Mit diesem „Was sind das für Zeiten!“-Ausruf schloss Gauß leider ein bisschen unangenehm an die Worte von Leipzigs Oberbürgermeister an. Denn während Jungs Rede dachte man unwillkürlich: Die Zeiten sind, wie sie sind. Es kommt dabei immer auf die Perspektive an: In vielen Ländern der Welt sind die Zeiten auch vor der Pandemie ungewöhnliche, beängstigende, unsichere, von schweren Krisen beherrschte gewesen.

Und dass eine Stadt wie Kiew so nahe an Deutschland liegt wie der Gardasee, was Jung in Kilometern vorrechnete, ändert nichts daran, dass das Land Jahrzehnte lang im Bewusstsein des westlichen Europas viel weiter entfernt war als der Gardasee. Was sind das für Zeiten: Vielleicht hätte man sich das in den vergleichsweise so ruhigen, friedfertigen Jahrzehnten zuvor etwas öfter sagen sollen. 

Eine Rede jedenfalls lässt sich schon auch mal umschreiben, und die von Gauß’ war dann auch eine dem Anlass gemäße, ihm ganz eigene, schön kunstvoll aufgebaute. Er sprach zunächst über das, was er eigentlich sagen wollte, was er für seinen Leipziger Auftritt schon geschrieben hatte, quasi im Konjunktiv, um dann, nein, nicht auf den Krieg in der Ukraine zu kommen, sondern auf die abgesagte Leipziger Buchmesse.

Die Messe-Absage war ein "Verrat an der Literatur"

Gauß ging mit den Verlagskonzernen und ihrer „Marktmacht“ ins Gericht, genauer: mit deren Vorsitzenden. Diese bezeichnete er wegen ihrer gleichlautenden Begründungen der Absage als „Synchronjammerer“, wofür es im Auditorium der Nicolai-Kirche spontan Beifall gab: „Mir erschien das als Verrat an der Literatur selbst", schloss der Geehrte, "und an den vielen, die ihr aus Berufung und von Berufs wegen ihre Zeit, ihre Talente, Liebe und Leidenschaft widmen, auf welche Weise und auf welchem Posten immer“.

Erst danach wandte er sich dem Ukraine-Krieg zu, den er als „ein einziges Kriegsverbrechen“ bezeichnete, ein russisches selbstredend: "Aber erwarten Sie bitte nicht, dass ich Ihnen und mir diesen Krieg zu erklären versuche.“ 

Was Gauß stattdessen machte: Er kam auf die Sprache selbst zu sprechen, darauf, dass dieser russische Überfall „auch als militärische Sonderoperation gegen die Sprache angelegt“ sei. In doppelter Hinsicht: „Zum einen gegen die ukrainische Sprache, die seit zaristischen Zeiten zu einem rohen Bauerndialekt abgewertet wurde.“

Die Ukraine: ein Land mit vielen Nationalitäten

Gerade die Literatur habe sich der jahrzehntelangen Ausmerzung der ukrainischen Sprache in Politik, Verwaltung und anderswo widersetzt. „Zum anderen“, vervollständigte Gauß, „hat die sprachpolizeiliche Sonderoperation das Kriegsziel, Begriffe per Gesetz für verbindlich zu erklären und aus der Lüge, etwa der, die Ukraine zu ,denazifizieren´, eine staatsbürgerliche Pflicht zu machen.“

Karl-Markus Gauß, der selbst mehrmals in der Ukraine war und dort viele Freunde hat, erklärte weiter, nun in seinem Element, dass die Ukraine ein Land mit vielen Nationalitäten sei, „mit verschwimmenden Übergängen“. Sie könne nicht einfach über den Umweg der Sprache geteilt werden.

Es gehört zum Wesen und zur Größe von Gauß, dass er schließlich, so wie er das häufig in seinen Büchern zu tun pflegt, noch auf eine andere, unbekannte Autorin hinwies: auf die ukrainische Journalistin Olesa Yaremschuk und ihr Buch „Unsere Anderen“, erschienen im kleinen Stuttgarter ibidem-Verlag. Darin hat Yaremschuk Geschichten über vierzehn ethnische Minderheiten in ihrer Heimat geschrieben. Sicher vermittelt ihr Buch weitere Erkenntnisse über die Ukraine - und rückt uns das Land womöglich noch ein bisschen näher. 

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