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Drei der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Titel in der Kategorie Belletristik

© dpa

Preis der Leipziger Buchmesse: Alte literarische Schule

Erzählen uns Christian Kracht, Friederike Mayröcker oder Helga Schubert, wer wir sind? Ein Kommentar zur Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse.

Als jetzt die Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse verkündet wurde, war man spontan mehr als verblüfft, gerade beim Blick auf die Auswahl der für den Belletristik-Preis nominierten Titel.

Es fehlt sehr eindeutig etwas auf dieser Liste, in diesem Fall kein einzelner Titel, kein in den vergangenen Monaten absolut herausragendes Buch, sondern ein ganzer Bereich der deutschsprachigen Literatur, der dieses Frühjahr die gesellschaftspolitischen Debatten begleitet und die Rezeption entscheidend bestimmt hat.

Bücher in denen es um Identität und Rassismus, um Klasse und Gender-Diskurse geht, Bücher von Autorinnen wie Sharon Dodua Otoo („Adas Raum“) oder Mithu Sanyal („Identitti“), von Alem Grabovac („Das achte Kind") oder Asal Dardan („Betrachtungen einer Barbarin").

Das wirkt jetzt so, als habe sich die Jury bewusst gegen einen vermeintlichen Trend entschieden und nur literarische Qualitätskriterien gelten lassen, was ja nur zu begrüßen ist.

Mit Kracht und Hermann kehren die neunziger Jahre zurück

Doch gibt es bei jeder Jury das Bedürfnis, die eigene Auswahl als repräsentativ für gesellschaftliche Veränderungen oder aktuelle Phänomene zu begreifen, sie auf einen Nenner zu bringen, und da wirkt es etwas schief, wenn dieser Liste nun kommentierend mit auf den Weg gegeben wird: „Wer sind wir? Wer wollen wir sein? Diese Fragen ziehen sich durch zahlreiche Bücher des Pandemiejahrgangs.“ Dazu hätte es in jedem der oben genannten Bücher trefflich und zeitgemäß Antworten gegeben.

Wenn man das außer Acht lässt und sich die Liste der Belletristik genauer anschaut, ist diese eine ehrenvolle, eine mit vielen großen Namen gespickte, nicht zuletzt sehr reife.

Die 96-jährige Friederike Mayröcker mit ihrem Band „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“ steht da neben der 81-jährigen Helga Schubert und ihrem Lebensroman in 29 Geschichten „Vom Aufstehen“.

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Mag die Nominierung der lange mit allen Ehren und Preisen ausgestatteten Mayröcker verwundern, da sich gerade in der Lyrikszene viel tut, so darf Helga Schubert mit ihrer deutsch-deutschen Biografie und ihrem thematisch breit gefächerten Werk immer noch als Entdeckung gelten, als Wiederentdeckung, nachdem sie in Klagenfurt vergangenes Jahr den Bachmann-Preis gewonnen hat.

Dazu kommen Christian Kracht und Judith Hermann, die in den neunziger Jahren mit ihren Debüts „Faserland“ und „Sommerhaus, später“ sofort zu literarischen Superstars wurden und sich danach zu anerkannten Schriftsteller:innen entwickelten.

Kracht ist für sein „Faserland“-Follow-up „Eurotrash“ mitunter gefeiert worden, zumindest von seiner ewigen Fan-Community in der Literaturkritik, Hermann wird das ganz sicher noch für ihren Ende April erscheinenden wunderbaren Roman „Daheim“. Fehlt noch Iris Hanika, die unbekannteste Autorin auf dieser Liste, die seit zwei Jahrzehnten gute Romane schreibt und damit immer mal wieder zu Longlist-Ehren beim Deutschen Buchpreis kommt.

Warum nicht Elisabeth Edls Flaubert-Übersetzung

Hanika müsste mit „Echos Kammern“ diesen Preis der Leipziger Buchmesse, der am 28. Mai vermutlich ausschließlich digital vergeben wird, eigentlich gewinnen. Das hätte etwas von einer Werkauszeichnung, der Etablierung einer Autorin und würde die Eigenheit der Jury betonen.

Doch dass Buchpreisen stets viel Willkür innewohnt, zeigt sich bei diesem Leipziger Preis wie üblich in den Kategorien Sachbuch und Übersetzung. Die Expertise für die Sachbuchauswahl ist eine schwere, vorgenommen von Literaturkritiker:innen, aus denen die Jury zu großen Teilen besteht.

So haben es hier Uta Ruge („Bauern, Land“), Christoph Möllers („Freiheitsgrade“), Heike Behrend („Menschwerdung eines Affen“), Dan Diner („Ein anderer Krieg“) und Michael Hagner („Foucaults Pendel“) geschafft. Aus welchen Gründen einer dieser Titel überragender ist als die anderen, bleibt dann Jury-Geheimnis, natürlich auch, warum sie vielen anderen sehr guten Sachbüchern vorgezogen wurden, und so stellt sich das auch bei den Übersetzungen dar.

Hier wurden unter anderem Hinrich Schmidt-Henkels Übersetzung von Tarjei Vesaas „Die Vögel“ und die von John Dos Passos' „USA-Trilogie. Der 42. Breitengrad / 1919 / Das große Geld“ durch Dirk van Gunsteren und Nikolas Stingl nominiert. Nicht dabei, was auch wieder merkwürdig ist: Elisabeth Edls großartige Flaubert-Übersetzung „Lehrjahre der Männlichkeit“.

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