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Zara Zandiehs Kurzfilm „Octavia’s Visions“ ist inspiriert von der britischen Science-Fiction-Autorin Octavia Butler.

© Zara Zandieh

Postmigrantische Perspektiven im deutschen Film: Vielfalt ist noch immer keine Selbstverständlichkeit

Die Filmreihe "Fiktionsbescheinigung" im Sinema Transtopia beschreibt postmigrantische Perspektiven auf Deutschland. Ein Versuch, unseren Blick neu zu justieren.

Hip-Hop, Kapuzenpullis, lässig getragene Cappys, Breakdance: Alles sieht erstmal nach L.A. aus, aber „Fake Soldiers“ ist ein Kurzfilm aus Deutschland. Im Zentrum steht Tamu, ein Schwarzer Deutscher mit afrikanischen Wurzeln, der sich von seinem Kumpel überreden lässt, einen auf Afroamerikaner zu machen, weil der Ami-Style der G.I.s bei den Frauen besser ankommt. In nur 25 lässigen Minuten holt Regisseur Idrissou Mora-Kpai aus dieser simplen Idee eine originelle Reflexion übers Deutschsein heraus: Schwarze besitzen in diesem Land als coole Gäste immer noch mehr kulturelles Kapitel als Deutsche.

„Fiktionsbescheinigung“ heißt das Sonderprogramm des diesjährigen Berlinale-Forums, das 16 solcher filmischer Perspektiven auf Deutschland versammelt. Der sperrige Titel ist dem Amtsdeutsch entlehnt, bezeichnet dort das vorläufige Aufenthaltsrecht, das Nicht-EU-Bürger mit dem Antrag auf Erteilung einer regulären Aufenthaltserlaubnis zunächst erhalten. Und um die Erfahrung eines Deutschseins unter Vorbehalt geht es auch in vielen der Filmen, die an zehn Tagen im Sinema Transtopia im Haus der Statistik laufen.

„Auch die Vorstellung davon, was Deutschland ist, was als deutsch gilt, ist eine Fiktion“, so kommentierte Karina Griffith, die mit Enoka Ayemba, Jacqueline Nsiah, Biene Pilavci und Can Sungu die Reihe kuratiert hat, auf einem Online-Panel im Juni den Titel. Das Team attestiert den 16 Kurz- und Langfilmen eine „eigene visuelle und textuelle Praxis der Zeugenschaft von innen, nicht vom Rand“. Die Reihe will also gerade nicht das deutsche Kino von den Rändern aus ein bisschen bunter machen, sondern unseren Blick aufs Zentrum neu justieren: Was galt und gilt unter welchen Umständen als deutsch?

Die hier versammelten filmischen Stimmen wollen nicht bloß von ihren Erfahrungen sprechen, sie wollen mitreden. Dass diesem Mitspracherecht noch immer enge Grenzen gesetzt sind, zeigt die iranischstämmige Narges Kalhor am Beispiel der Filmindustrie selbst. „In the Name of Scheherazade oder der erste Biergarten in Teheran“ (2019) reflektiert - humorvoll, aber mit wütendem Unterton – die Schwierigkeit, als eingewanderte Regisseurin einen Film zu machen, der als eigenes künstlerisches Statement verstanden wird, und nicht nur als Ausdruck einer bestimmten Kultur. Ein Redakteur labert Kalhor buchstäblich in den Film rein, versucht, die Geschichte in biografische und gefällige Culture-Clash-Bahnen zu lenken.

Streifzüge durch die türkische Nachtclubszene

Wohl auch um solchen Fallstricken zu entgehen, hat die in Lagos geborene und in Hamburg aufgewachsene Schauspielerin Sheri Hagen mit Equality Film ihre eigene Produktionsfirma gegründet. Hagen ist mit ihrem Langfilmdebüt „Auf den zweiten Blick“ (2013) vertreten, ein feinsinniger Episodenfilm, in dem sich die Schicksale mehrerer sehbehinderter Menschen kreuzen. Ein Film auch, in dem die unterschiedlichen Herkünfte der Darsteller:innen wie selbstverständlich nicht thematisiert werden.

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Gerade anhand dieser Selbstverständlichkeit merkt man, wie selten die längst existierende Vielfalt im postmigrantischen Deutschland in einer noch immer homogenen Film- und Fernsehlandschaft auftaucht. Und wie wenig bekannt noch heute manche der älteren Filme sind, die schon zu ihrer Zeit kaum wahrgenommen wurden. So etwa „Gölge“, der Abschlussfilm der ersten türkisch-deutschen DFFB-Absolventin Sema Poyraz von 1980, der das Programm der Fiktionsbescheinigung ebenso bereichert wie Ayşe Polats tolles Roadmovie „Auslandstournee“ (1999). Spielt „Gölge“ vorwiegend im Wohnzimmer einer „Gastarbeiterfamilie“, bringt uns „Auslandstournee“ an selten gesehene Orte: die türkische Nachtclubszene europäischer Großstädte.

(Die Reihe läuft bis zum 28. August im Sinema Transtopia, Otto-Braun-Straße 72, Berlin)

Neben klassischen Spielfilmen wie diesen versammelt die Reihe auch Zeitdokumente, Kurzfilme und klassische Dokumentarfilme wie Mala Reinhardts „Der zweite Anschlag“ über die Kontinuität rassistischer Morde bis zum NSU. Aber auch experimentelle Formate, etwa Zara Zandiehs queer-dekolonialer Kurzfilm „Octavia’s Visions“ (2020), der einen weiten Bogen schlägt von den Romanen der 2006 verstorbenen Science-Fiction-Autorin Octavia Butler bis zum Terror von Hanau und der vom Klimawandel bedrohten Zukunft.

Mit dem Sinema Transtopia im Haus der Berliner Statistik hat „Fiktionsbescheinigung“ nun einen mehr als passenden Ort für den Weg von der digitalen in die analoge Welt gefunden. Das Kinoprojekt der politischen und künstlerischen Initiative bi’bak hat es sich zur Aufgabe gemacht, transnationale, postmigrantische und postkoloniale Perspektiven auf die Leinwand zu bringen und mit Diskussionsveranstaltungen das Kino wieder als Diskursraum zu verstehen. „Fiktionsbescheinigung“ bietet für dieses Vorhaben ganz hervorragende Ausgangspunkte.

Till Kadritzke

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