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Der scheidende Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mit seiner designierten Nachfolgerin Ursula von der Leyen.

© REUTERS

Postengeschacher um EU-Kommissionschef: Europas kalter Sommer

Leidenschaft an falscher Stelle: Während das politische Berlin hitzig über Posten diskutiert, schmilzt die ursprünglich große Idee eines vereinten Kontinents.

Einen Tag lang war sogar Peter Altmaier von der CDU im Gespräch. Altmaier, so hieß es, sei direkt aus dem Élysée-Palast vom französischen Staatspräsidenten ins Spiel gebracht worden. Beim G-20-Gipfel in Japan verhandelte die Bundeskanzlerin noch über Frans Timmermans, den sozialdemokratischen Spitzenkandidaten für die Europawahl, der aber von den vier Visegrád-Staaten und Italien abgelehnt wurde.

Vorher war schon Manfred Weber, der Spitzenkandidat der EVP und Gewinner der Europawahl, vom französischen Staatspräsidenten und dem ungarischen Ministerpräsidenten abgelehnt worden, dabei hatte sich die Bundeskanzlerin noch in Japan gedacht, wenn’s der Timmermans wird, dann wird der Weber wenigstens EU-Parlamentspräsident.

Aha, dachte ich irgendwann selbst, wenn also jetzt weder Weber noch Timmermans EU-Kommissionspräsident wird, dann wird’s ja wohl die dritte Spitzenkandidatin, die liberale Margrethe Vestager aus Dänemark, die den mächtigen Konzernen den Kampf ansagte. Aber sie wurde auch abgelehnt, angeblich könne niemand EU-Kommissionspräsident werden, der aus einem Land kommt, in dem man nicht mit dem Euro bezahlt.

Postenschlacht vs. Seenotrettung

Während also in Brüssel, Japan, Paris, Straßburg und Berlin mit offenbar größter Energie und Leidenschaft darüber verhandelt wurde, wer denn nun um Gottes Willen EU-Kommissionspräsidentin werden soll, musste sich in Italien eine junge Frau vor Gericht verantworten. Carola Rackete, Kapitänin der Sea-Watch 3, war mit 40 Flüchtlingen an Bord ohne Erlaubnis in den Hafen von Lampedusa gefahren, weil sich nach 17 Tagen kein europäischer Hafen bereiterklärt hatte, das Schiff einlaufen zu lassen.

Laut Bericht Racketes habe sie unter massivem Druck gestanden, weil sich die Flüchtlinge lieber ins Wasser stürzen wollten, als noch länger auf dem Schiff auszuharren. 17 Tage lang befand sie sich sogar vorschriftsmäßig außerhalb der italienischen Hoheitsgewässer und verhandelte mit europäischen Ländern, unter anderen auch mit dem Auswärtigen Amt. Sogar der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte lehnte den Eilantrag des Sea-Watch-Schiffes ab, in Italien anlegen zu dürfen.

Man muss sich das vorstellen: Diese fast unglaubliche Geschichte der Sea-Watch 3 in einem der führenden G-7-Staaten findet parallel zu den leidenschaftlichen und tagelangen Verhandlungen um EU-Posten statt. Verstoß gegen die Hafen- und Gewässersperrung nach erfolgter humanitärer Seenotrettung auf der einen Seite; Postenschlacht um den Kommissionspräsidenten, den Parlamentspräsidenten, den Ratspräsidenten und um die ganzen Vizepräsidenten vom Kommissions- Parlaments- und Ratspräsidenten auf der anderen Seite.

Warum die ganze Europawahl?

Warum ist die Kapitänin nicht mit ihrem Schiff nach Tripolis zurückgefahren, als sie die Seenotleitstelle in Libyen dazu aufforderte? Weil Libyen kein sicheres Land ist, wie Sea-Watch mitteilte.

Warum twitterte der deutsche Außenminister Aufmunterungen für die Kapitänin, wenn seine Regierung wie die anderen europäischen Regierungen die Seenotrettung einstellt und mit der libyschen Küstenwache kooperiert, die die Menschen in Lager bringt, wo sie vergewaltigt und gefoltert werden?

Gestern habe ich drei Berichte hintereinander im Radio gehört. Der eine ging um die Empörung der SPD, dass nun plötzlich Ursula von der Leyen Kommissionspräsidentin werden soll, mit der sie doch eigentlich zusammen regieren. Man hörte Martin Schulz schimpfen, „Untergang der Demokratie“, „Untergang Europas“, er wollte gar nicht mehr aufhören.

Postenpolitik wie Ascheregen

Warum nicht Timmermans? Warum drei Spitzenkandidaten, TV-Duelle, warum überhaupt die ganze Europawahl, wenn’s jetzt plötzlich Ursula von der Leyen wird, als ob die EU einfacher zu führen sei als die Bundeswehr?! Dann lieber Weber, auf einmal warb Schulz sogar für Weber, so absurd ist die SPD also schon.

Der nächste Bericht war darüber, wer nun Verteidigungsminister werden könnte. Vielleicht Jens Spahn? Vielleicht könnte dann Altmaier, der angeblich mit dem Ministerium für Wirtschaft nicht ganz so glücklich sei, ins Gesundheitsministerium wechseln, aber wer übernimmt dann Wirtschaft? Vielleicht Weber, dachte ich spontan?

Der dritte Bericht war über einen Arzt bei „Ärzte ohne Grenzen“, der gerade aus einem Flüchtlingslager in Tripolis kam und berichtete, dass die Menschen, mit denen er gesprochen hatte, lieber wieder aus Libyen in ihre Länder zurückflüchten würden, wenn sie noch Pässe und Geld hätten.

Die Berichte waren zwar alle hintereinander, aber im Prinzip gehörten sie zusammen. Je erhitzter das politische Berlin über die Vergabe der EU-Posten debattierte, umso kälter und kleiner wurde die Idee von Europa.

Sie war schon im europäischen Betrieb der Postenpolitik klein und kleiner geworden, aber als nun auch die SPD und dann noch die CSU und die Grünen zu schimpfen begannen und sich die europäische Postenpolitik wie ein Ascheregen auf die deutsche Kabinettsbesetzung legte, blieb gar nicht mehr von der Idee von Europa übrig.

Wo bleibt die Leidenschaft für die wichtigen Fragen?

Leidenschaft beweist der politische Betrieb bei Fragen wie diesen: Darf jemand, der nicht Spitzenkandidat der Europawahl war, Kommissionspräsident werden? Müssen Europäischer Rat und Europäisches Parlament bei der Bestellung des Kommissionspräsidenten zusammenwirken? Kann der Rat dem Parlament vorschreiben, dass es seinem Vorschlag zustimmen muss? Kann umgekehrt das Europäische Parlament dem Rat vorschlagen, wen es vorzuschlagen hat? Und so weiter ...

Warum streitet man nicht auch mit genau dieser Leidenschaft und Energie über andere Fragen? Warum es zum Beispiel für Flüchtlinge, die nach Europa wollen, keine menschenwürdigen Auffanglager unter EU-Aufsicht gibt? Warum es keine verbindlichen Aufnahmequoten in Europa gibt?

Keine legalen Wege für Arbeitsmigration, keine Rücknahmeabkommen mit Herkunftsstaaten und keine schnellere Asylverfahren? Und warum wir in der EU mittlerweile Zäune mit Klingendraht an den Außengrenzen haben? Pakts mit gewalttätigen Milizen als Küstenwachen oder mit Autokraten in der Türkei?

Italien alleinlassen, aber dennoch kritisieren

Und dabei mit dem Finger nur auf den rechtsnationalistischen Innenminister Italiens zeigen, Italien aber viel zu lange mit der Rettung und Aufnahme von Bootsflüchtlingen alleine gelassen haben? Und zuletzt: Warum man sich zwar laut Seerechtskonventionen der Vereinten Nationen für unterlassene Seenotrettung strafbar macht, aber dann 17 Tage lang keinen europäischen Hafen findet, den man anfahren darf, ohne sich strafbar zu machen? Was ist das für ein Irrsinn?

Dieser europäischen Woche im EU-Betrieb und auf dem Meer spürt man es an: Das politische Gebaren, die Aufregung um Posten, das große Echo, das die Vergabe von Posten erzeugt, das unentwegte Gerede in den Talkshows – das alles steht in keinem Verhältnis mehr zu den Aufgaben dieser Zeit.

Das spüren natürlich zuallererst die privaten Seenotrettungsorganisationen und unabhängige Nothilfen wie „Ärzte ohne Grenzen“, aber auch all die die jungen Menschen, die freitags für den Klimaschutz auf die Straße gehen, es spüren zuletzt sogar die Youtuber.

Ein anderer Geist

Über die vermutlich neue EU-Kommissionspräsidentin hieß es in der „Süddeutschen Zeitung“, in einem der unzähligen Kommentare der letzten Tage: „Ursula von der Leyen befriedigt den EVP-Anspruch an den Spitzenjob und den deutschen Anspruch an einen Ersatz für den düpierten Manfred Weber. Sie funktioniert im Paket mit der möglichen Präsidentin der Zentralbank, die von der Unterstützung des französischen Präsidenten lebt.“

In dieser Sprache über Posten, Ansprüche, Ersetzen und funktionierende Personalpakete steckt das Denken und Selbstverständnis unserer Politik.

Aber wir bräuchten endlich einen anderen Geist. Und Taten wie jene von der Kapitänin in Lampedusa – auch wenn man dafür die Hafen- und Gewässersperrung in den EU-Parlamenten von Straßburg und Brüssel außer Acht lassen muss.

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