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Menschgemachte Katastrophe. Feuerwehrleute bekämpfen Waldbrände in Kalifornien.

© REUTERS

Postapokalyptische Literatur: Die finale Party

Ob das Erzählen immer noch helfen kann? Roman Ehrlichs kluger, raffinierter Roman „Malé“.

Wer in Roman Ehrlichs „Malé“ seinen Hunger stillen will, geht in den „Hühnersultan“. Dort kann er durch die Fenster das Treiben am Inselhafen beobachten. Theoretisch zumindest. Denn ob er auch etwas sieht, hängt davon ab, wie dick der sich auf den Fenstern beständig ablagernde Fettfilm in diesem Moment gerade ist. Und was für verwirrende Graffiti die Gäste darauf hinterlassen haben.

Meeresmonster und andere Erzählfäden

Was wie ein bizarres Detail am Rande erscheint, darf man ruhig als Metapher für die Schwierigkeiten nehmen, die dieser Roman seinen Lesern stellt. Allein der Aufmarsch an skurrilen Nebenfiguren wie dem „hochbegabten Musiker“ oder dem „untergetauchten Whistleblower“, die zwar allesamt detailliert beschrieben werden, dramaturgisch gesehen aber irrelevant sind. Dazu kommen noch blinde Motive wie die Hinweise auf Meeresmonster sowie lose Erzählfäden und vor allem chronologisch schwer einzuordnenden Zwischenszenen. Gleich zu Beginn zum Beispiel erlebt ein „Gefesselter“ seine allmähliche Ertränkung; man kann nachträglich nur vermuten, um wen es sich handelt.

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Nicht zu vergessen der zwar allwissende, aber völlig empathielose Erzähler, der Satzgirlanden produziert, die selbst Hermann Broch hätten vor Neid erblassen lassen. Ehrlichs heruntergekühlte Prosa erstickt jegliche Nähe zu den Figuren schon im Ansatz, und zwar offensichtlich gewollt. Auch deshalb, weil die Figuren vom Erzähler ständig apostrophiert werden, wie „der verzweifelte Vater der verstorbenen Schauspielerin“ oder „die amerikanische Literaturwissenschaftlerin“ – als rechnete der Autor mit einer dementen Leserschaft, die fortwährend daran erinnert werden müsste, wer dieser Elmar Bauch oder diese Frances Ford sind.

Insel ohne Entkommen

Tatsächlich jedoch sind es eher die Figuren selbst, denen im Lauf des Romans ihre Identität mehr und mehr abhandenkommt. Weshalb es auch unwahrscheinlich ist, dass sie die Insel je wieder verlassen werden. So oder so: Es braucht Durchhaltevermögen, bis man sich an Ehrlichs Stil gewöhnt hat und während der passagenweise an einen Drogentrip erinnernden Lektüre zumindest ansatzweise in die Handlung hineinrutscht. Doch die Anstrengung lohnt sich – und wie!

"Climate Fiction" als neues Genre

Um eine Droge, Luna genannt, geht es in „Malé“, Roman Ehrlichs drittem Roman, übrigens auch, unter anderem. Zunächst: Der Text des 37-jährigen Berliner Autors gehört zur derzeit beliebtesten Variante postapokalyptischer Literatur, der „Climate Fiction“, und spielt irgendwann Ende des 21. Jahrhunderts. Zu diesem Zeitpunkt sind die Dinge auf der Welt längst „den Bach runtergegangen“, meteorologisch ebenso wie politisch-wirtschaftlich. Der Schauplatz ist die ehemalige Hauptstadt der Malediven, einst eine „Top-Destination für Honeymooner“ und Hobbytaucher. Der Tourismus hat inzwischen aber einen schweren Stand, gilt er doch als „das schlechteste Verhältnis, das ein Mensch zur Welt haben kann“.

Abschied von den Atollen

Was nicht zuletzt daran liegt, dass von den einst paradiesischen Atollen aufgrund des Meeresspiegelanstiegs kaum etwas übrig ist. In Malé steht das Wasser knöcheltief in den verschlickten Straßen. Dennoch ist der marode Ort mit seiner fragilen Ordnung immer noch anziehend, die ideale Heterotopie für alle, die sich vor der Welt verstecken wollen. „Der Ort, an dem man sein kann, wer man wirklich ist, und nicht der, als den einen die andern sehen oder sehen wollen.“ So hat sich in den oberen Etagen der aufgegebenen Luxushotels eine „Gesellschaft der Glückssuchenden“ einquartiert, mit Aussteigern aus aller Welt, um Teil der „finalen Party“ zu sein. So lange eben, bis auch der klägliche Rest der Stadt untergegangen ist.

Das Verschwinden des Dichters

Zu den Aussteigern gehörten zwei Deutsche, eine Schauspielerin sowie ein Lyriker. Von Mona Bauch soll sich eine Wasserleiche und ein Abschiedsbrief gefunden haben, von dem Dichter Judy Frank fehlt jede Spur. Ein gemeinsamer Suizid? Mona Bauchs Vater Elmar will ihren Tod nicht wahrhaben und macht sich vor Ort ebenso auf die Suche wie die schon genannte US-Germanistin, die das Schicksal ihres Lieblingslyrikers klären will.

Wer etwas über das Schicksal der Verschwundenen wissen könnte oder müsste, spricht in Andeutungen und Rätseln. Es sind die Akteure eines sich im Hintergrund vollziehenden Machtkampfes auf der Insel: darunter der „Professor“, der in seiner mit Kunst und Literatur vollgestopften Höhle über dem „Blauen Heinrich“ residiert. Oder seine Rivalin, die Niederländerin Hedi Peck, die von einer matriarchalen Zukunft auf künstlichen Inseln aus Plastikmüll träumt und einstweilen die verbotene Droge Luna unter die Leute bringt. Die wird von den „Eigentlichen“ produziert, auf einem verlassenen Kreuzfahrtschiff hausende Milizionäre in Neoprenanzügen mit unklaren Absichten.

Ein Hühnersultan sammelt Geschichten

Zu den Stammgästen des „Hühnersultan“ gehört ein Schriftsteller namens Adel Politha. Er sammelt die Lebensgeschichten der Neuankömmlinge, angeblich zur literarischen Verwertung. Dabei sind ihm gerade die Romanautoren suspekt: „Unter denen, die noch festhalten am Schreiben, sind sie fraglos die eitelsten. Diese schreckliche Geste des Geschichtenerzählens. Wer die Welt so wahrnimmt – als einen Haufen guter Geschichten –, dem sollte man eigentlich das Schreiben verbieten. Wenn es noch um irgendetwas gehen kann beim Schreiben, dann doch um das, was man eben nicht sofort erkennen kann, das Nichtwissen, die Ratlosigkeit, die Schweigsamkeit der Dinge, die Geheimnisse hinter den Symbolen und die Angst, die von diesem Unwissen, von der Leere und der Sinnlosigkeit ausgeht.“

Welt im Untergang

Womit die Poetik dieses Romans in einer schönen autoreflexiven Schleife auf den Punkt gebracht wäre. „Malé“ ist ein hochintelligenter, raffinierter Roman über Zeit, Identität, die Möglichkeit zur Neuerfindung und die Frage nach dem Sinn von Literatur in einer Welt im Untergang. Wer nach verwandten Autoren sucht, wird Philipp Schönthaler nennen müssen, der wie Roman Ehrlich die, mit Margaret Atwood gesprochen, „Speculative Fiction“ als bestgeeignetes Genre ansieht, um die Frage nach dem Menschen im 21. Jahrhundert zu beantworten. „Malé“ als Roman dagegen wirkt in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur als ein ähnlich eindrucksvoller absurd-nihilistischer Solitär wie Wolfgang Herrndorfs „Sand“ (Roman Ehrlich: Malé. Roman. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2020. 228 Seiten, 22 €).

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