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Vom Journalismus zur Literatur. Francesca Melandri.

© Elisabetta Claudio/Wagenbach

Porträt Francesca Melandri: Das Fremde in mir

Was die Explosion der Gegenwart mit der kolonialen Vergangenheit zu tun hat. Begegnung mit der italienischen Bestsellerautorin Francesca Melandri.

Dass alle Menschen Brüder und Schwestern sind, ist einer von diesen Sätzen, die abstrakt wirken, nach republikanischem Kitsch klingen und in diesen Zeiten nach Gutmensch zu müffeln scheinen. Wissen wir es nicht besser?

In Francesca Melandris Roman „Alle, außer mir“ (Verlag Klaus Wagenbach) springt die Abstraktion gleich auf den ersten Seiten ins Leben: Der junge Äthiopier, der an einem Hochsommertag des Jahres 2010 in Rom an der Haustür von Ilaria Profeti klingelt, ist – auch – ein Flüchtling, einer, der die Heimat verlassen musste, nachdem das Regime ihn, einen jungen Lehrer, in ein Foltergefängnis warf, der auf der Flucht die berüchtigten libyschen Lager durchlitten und die Überfahrt knapp überlebt hat. Aber für die römische Lehrerin ist Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti vor allem ihr Neffe, der Sohn ihres ältesten Bruders, von dessen Existenz sie erst jetzt erfährt. Ihr Vater, inzwischen über 90, hat seinen afrikanischen Sohn stets verschwiegen. Ausgerechnet diesen: Dessen Mutter Abeba, so erfährt man im Laufe des Romans, war neben der eigenen Mutter die vermutlich einzige Frau im Leben von Ilarias Vater Attilio, für die er starke Gefühle hegte. Der zweimal verheiratete Attilio Profeti, Vater von vier offiziellen Kindern, ein nicht unsympathischer, aber ziemlich oberflächlicher Beau und Frauenschwarm, wurde mit viel Liebe bedacht, meistens von Frauen. Seine eigene Liebe galt ein langes, zufriedenes Leben lang vor allem ihm selbst.

Die italo-äthiopische Familie ist keine literarische Erfindung, sondern historische Realität: das Ergebnis von sechs Jahren Kolonialherrschaft des faschistischen Italien am Horn von Afrika, mit brutalen Gasangriffen und Terror erzwungen, die Hunderttausende das Leben kostete und die Äthiopierinnen und Eritreerinnen zu doppelt Beherrschten machte. Der bis heute in Italien als Journalist des Jahrhunderts verehrte Indro Montanelli zum Beispiel, der 1935 als Freiwilliger nach Äthiopien ging, plauderte 65 Jahre später in seiner Kolumne über seine „Ehe auf Zeit“ mit der 14-jährigen Destà, die er gleich im ersten Kriegsjahr von ihrem Vater für 350 Lire, so wörtlich, „leaste“.

Überraschende Knoten

Was die sogenannte Flüchtlingskrise mit europäischer Geschichte zu tun hat, begründet diese Familiengeschichte in Melandris „Alle außer mir“ drastischer und einleuchtender, als es jede politikwissenschaftliche Analyse unserer jahrhundertelangen Ausbeutung des Nachbarkontinents könnte. Ähnlich überraschende und faszinierende Knoten knüpft Melandri, wenn es um Geschlechterverhältnisse, um Rassismus oder um die Leiden geht, die sehr hohes Alter oder ein Zuviel an Schönheit bedeuten, ja sogar um den täglichen Wahnsinn des römischen Straßenverkehrs. Die Polin Malgorzata, die Attilio und seiner Frau den Haushalt führt, weil der italienische Lohn fürs Kochen und Putzen immer noch deutlich höher ist als der einer Maschinenbauingenieurin in Lodz, wird im Hause Profeti „Maria“ gerufen – „Nur weil es einfacher ist, nicht bös gemeint“. Ihr Name ist den römischen Arbeitgebern so egal wie der Mensch dahinter.

Rasse, Klasse, Geschlecht: Wer „intersektionale Diskriminierung“ nur für einen akademischen Zungenbrecher hält, bekommt in der Szene am Tisch der Profetis in ein, zwei schlagenden Sätzen zu lesen, was sie in der Realität von Frauen, „anderen“ Frauen, praktisch bedeutet. Im Gespräch mit dem Tagesspiegel hakt Francesca Melandri hier sofort ein: „Alles ist intersektional!“ Feminismus, der Diskriminierungen nicht mitdenkt, die sich mit der des Geschlechts verschränken, sei für sie keiner.

Und was von alldem, das sie im Roman erzählt – auch das multiethnische moderne Rom um das Esquilin-Viertel hinterm Bahnhof Termini gehört dazu –, ist für die Autorin nun selbst der Kern ihres Buchs? Melandri zögert. Obwohl sie vor jedem Buch ein Jahr lang die Dramaturgie und die Personenkonstellation anlege, entwickelten ihre Figuren ein Eigenleben. „Ich sehe erst nach dem Schreiben, was ich getan habe.“ Im Kern aber erzähle „Sangue giusto“, „Das rechte Blut“, so der Originaltitel, dessen Mehrdeutigkeit von „gerecht, rechtlich, richtig“ sich nicht ins Deutsche übertragen lässt, tatsächlich von Kolonialismus und Migration. „Von Rassismus lässt sich aber nicht erzählen ohne den Frauenhass. Die Frau ist das erste Fremde.“

Abschluss einer Trilogie

„Alle, außer mir“, Ende Juni im Verlag Klaus Wagenbach erschienen (Aus dem Italienischen von Esther Hansen, 608 S., 26 Euro) ist der Abschluss von Melandris Trilogie der italienischen Geschichte im 20. Jahrhundert – nach den Romanen „Eva schläft“, den Wagenbach in diesem Monat in deutscher Übersetzung neu herausgebracht hat, und „Über Meereshöhe“. „Eva schläft“ erzählt von Südtirol in den 60er und 70er Jahren, als der auch mit Bomben ausgetragene Kampf um die Abspaltung des deutschsprachigen Italien tobte, „Über Meereshöhe“ von der bleiernen Zeit des linksradikalen Terrors. Die Auseinandersetzung mit dieser Geschichte sei „sehr ideologisiert und unvollständig“ gewesen, sagt Melandri, Jahrgang 1964. Nicht in der Schule oder über die Medien hat sie vom Ausmaß der kolonialen Gewalt und vom Widerstand der Unterworfenen erfahren, sondern erst durch ihre Recherchen zum einstigen Abessinien und während zweier Reisen im Abstand von sechs Jahren. Ihren jüngsten Roman nennt Melandri „das natürliche Ende, das letzte Kapitel“ dieser italienischen Geschichte, jetzt, da sie wieder die Küsten Italiens erreicht – mit allen politischen Folgen im Inneren Europas. „Unsere Gegenwart“, sagt Melandri, „explodiert gerade, weil die Verarbeitung nicht funktioniert hat.“

Deutschlands Literaturkritikerpapst Marcel Reich-Ranicki bat einmal darum, ihm einen guten Roman von mehr als 500 Seiten zu nennen. Francesca Melandris Opus bringt es im Original auf 521 Seiten, in der deutschen Übersetzung sogar auf 80 mehr. Dabei ist sie eine Meisterin der Miniaturen. Wie in den wenigen Sätzen, die ihr für die polnische Maschinenbauingenieurin in Profetis Küche genügen, schafft sie es auch an anderen Stellen, eine Kultur, eine Katastrophe, eine Situation in einer Skizze vollständiger zu erzählen, als es ein Panoramabild täte. Über Attilios lange Weigerung zu heiraten und Vater zu werden, schreibt sie nur: „Seine Freiheit war ihm tatsächlich so teuer, dass er in den nächsten zwei Jahren zweimal mit Marella ins Stadtviertel Garbatella fuhr, wo sie sich breitbeinig auf einen Küchentisch legte und eine nach Gemüsesuppe stinkende Frau ihr mit einem Haken das Innere aus dem Bauch zog.“

Orte sehen und riechen

Womöglich haben die intensiven Recherchen zum Buch es so angenehm umfassender werden lassen. Die brauche sie, sagt Melandri, sie brauche auch den physischen Kontakt zu Gegenständen und Orten. In Äthiopien wollte sie nicht nur Zeitzeugen sprechen, „ich muss auch die Orte sehen, ich muss sie riechen.“

Ihr nächstes Buch soll etwas ganz anderes behandeln. Kein Hinweis. Vielleicht liegt der Stoff für Melandri, die so knapp wie ausführlich und präzise von Herrschaftsverhältnissen erzählen kann, zwischen Mann und Frau, Schwarz und Weiß, Nord und Süd, ja sogar in greifbarer Nähe. Als wir über ihre Schwester sprechen, die Linksdemokratin (heute Partito democratico) und frühere Jugend- und Kulturministerin Giovanna Melandri, gerät sie kurz in Rage. Die Intrigen, Bosheiten, Vernichtungsfeldzüge in der Politik habe sie durch das, was der älteren Schwester widerfuhr, aus nächster Nähe erlebt. Macht, das wäre ein Thema, über das man gern ein Buch von Francesca Melandri lesen würde. Gern wieder über 500 Seiten.

Francesca Melandri liest am Sa, den 13.10., im Rahmen der Buchmesse in Frankfurt/M. Infos zu den drei Terminen: www.wagenbach.de

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