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Wahlheimat Kreuzberg. Der australische Jazzmusiker Daniel Weltlinger lebt seit 2013 in Berlin. Die ererbte Violine wurde in Szolnok gebaut.

© Kitty Kleist-Heinrich

Porträt Daniel Weltlinger: Großvaters Geige

Wenn dieses Instrument erzählen könnte: Daniel Weltlingers jüdischer Opa hat es um die halbe Welt geschleppt. Nun verwandelt der Enkel die Reise in Musik.

Hundert Jahre, das ist kein Alter für eine Geige. Eine Amati, Guarneri oder Stradivari ist dreimal so alt. Und doch hat sich in das Instrument, das der Musiker Daniel Weltlinger mit sorgsamem Griff aus dem Koffer hebt, Geschichte eingeschrieben. Nicht die des Geigenbaus, nicht die der Musik, sondern die seiner Familie, die zugleich die des 20. Jahrhunderts ist. So verworren, gewalttätig und überlebensprall. „Zutiefst europäisch noch dazu“, sagt der seit 2013 in Berlin ansässige Australier. Und zeigt zwei Initialen auf dem Boden der Violine. Das „F“ ist schwach, das „Z“ deutlicher zu sehen. Die Buchstaben stehen für den Besitzer: Fyszman, Zoltan – seinen Großvater.

Und hat der Geigenbauer auch den Ort des Entstehens verewigt? Der Enkel dreht das Instrument ins Licht. Linst man durch eins der F-Löcher, ist ein eingeklebter Zettel zu sehen. Darauf steht „Szolnok“. Das liegt in Ungarn. Da stammt die Geige her. Genauso wie der Opa. Nur, dass der ungarische Jude unter dem anglisierten Namen Zoltan Fishman 1998 in Sydney verstorben ist, im gesegneten Alter von 96 Jahren. Und der Violinist Weltlinger hat die ererbte Geige zurück in die alte Heimat Europa gebracht und widmet ihrer Geschichte das Konzeptalbum „Szolnok“ (DMG Germany/Rectify Records). Am Mittwoch stellt er es in der Berliner Wabe mit einem aus Piano, Kontrabass und Schlagzeug bestehenden Quartett vor, bei dem er selbst auf Opas Violine spielt.

Obwohl der 41 Jahre alte Enkel am Sydney Conservatory of Musik ein Studium der klassischen Violine absolviert hat und ursprünglich auch ein ebensolcher Geiger werden wollte, ist schon beim ersten Ton, den er in seinem Kreuzberger Wohnzimmer wie auf dem Album anschlägt, klar, aus welcher musikalischen Tradition er stammt. Diese warme, bratschenhafte Klangfarbe, die Phrasierung, das Vibrato, der herzzerreißend schluchzende Ton. Da grüßen ungarische Stehgeiger und europäische Salonorchester, jiddische Klezmerbands und Gypsy-Swinger wie Stéphane Grappelli.

Sogar vorm Bundespräsidenten spielte er auf der Geige - zufällig

Dieser von Django Reinhardt popularisierten Swing-Spielart hat Daniel Weltlinger bereits in vorherigen Alben seine Referenz erwiesen und sie mit modernem Jazz und freier Improvisation kombiniert. Seinen ersten Deutschland-Besuch im Jahr 2002 hat er der musikalischen Seelenverwandtschaft zu Lulo Reinhardt zu verdanken. Der Sinto und Jazzgitarrist ist ein Enkel des legendären Schnuckenack Reinhardt und hat Weltlinger ins heimische Koblenz eingeladen. „Da hat mich dann seine Familie adoptiert“, erzählt Weltlinger, dessen durch den Holocaust versprengte und stark dezimierte Verwandtschaft sich über Frankreich, Israel, Ungarn und Australien verteilt.

Das allmähliche Heimischwerden in Europa gipfelt in den Umzug nach Berlin, wo er an jiddischen Liederabenden von Sharon Brauner und Karsten Troyke mitwirkt. Oder mit Nikko Weidemann den Soundtrack der Serie „Babylon Berlin“ einspielt.

Kaum, dass er Großvaters Geige im Oktober 2017 aus Australien nach Berlin brachte, ist er damit sogar im Schloss Bellevue aufgetreten und hat die deutsche Nationalhymne intoniert. Vor Bundespräsident Steinmeier. Wie das kam? Daniel Weltlinger lacht. „Es war einfach nur ein Job.“ Zusammen mit dem türkischen Ensemble Olivinn, einer der vielen Formationen, mit denen er gelegentlich spielt.

Opa erzählt sein Lebensgeschichte nur in kurzen Sätzen

„Ich bin kein Shtetl-Ghetto-Geigenspieler, überhaupt nicht“, sagt Daniel Weltlinger. „Ich lebe im Heute, schaue nach vorne und mische traditionelle Musik mit moderner.“ Das kann man dann Weltmusik nennen oder Ethno-Jazz, egal. Jedenfalls ist es eine Musik, die ihre Wurzeln ehrt. Und die auf dem bittersüßen, an Klangfarben wie an Atmosphäre reichen Album „Szolnok“ als musikalische Reise von Ungarn über Österreich, Frankreich, Spanien, Algerien, Marokko nach Australien führt. Zoltan Fishman hat seine Lebensgeschichte dem Enkel immer nur in knappen Sätzen erzählt. „Mit totalem Understatement“, erinnert sich der. Die lange Version hat die Shoah Foundation der University of Southern California in einem ausführlichen Interview aufgezeichnet. Die wichtigsten Stationen stehen im Booklet des Albums.

Warum Opa die Geige mitgeschleppt hat, als er 1920 mit 18 Jahren zu Fuß aus dem antisemitisch aufgeheizten Ungarn flieht, das für jüdische Studenten gerade einen Numerus clausus eingeführt hat? „Sie war ein Arbeitsgerät, eine Möglichkeit zum Geldverdienen“, erzählt Weltlinger. Zuvor hatte Zoltans Bruder Ernö die Studentengeige gespielt, den 1918 die Spanische Grippe dahinraffte. Ein das Violinkonzert von Brahms zitierender Track des Albums ist ihm gewidmet.

Nach einem Zwischenstopp in Wien, wo Zoltan Fishman im Oktober 1920 zufällig Zeuge eines Auftritts von Adolf Hitler wird, flüchtet er weiter nach Marseille, wo er 18 Jahre lang lebt. Neben seinem Ingenieursstudium arbeitet er als Kaffeehausmusiker und lernt Edith Piaf und Django Reinhardt kennen. Das Vichy-Regime nötigt ihn 1940 zur Flucht über die Pyrenäen, wo er von Francos Polizei aufgegriffen, inhaftiert und in ein Gefängnis in Algerien verlegt wird. Von dort entkommt er mit Hilfe des Roten Kreuzes und schließt sich erst der französischen Résistance und dann der britischen Armee an. Nach Kriegsende lässt er sich in Casablanca nieder, heiratet und bekommt eine Tochter, Daniel Weltlingers Mutter. Als in den Fünfzigern der Unabhängigkeitskampf gegen die französischen Kolonialherren und damit einhergehende antijüdische Pogrome ausbrechen, reicht es. Er übersiedelt mit Familie und Geige ins friedliche Australien.

Ich glaube an Fügungen, sagt Daniel Weltlinger

Die selbst eingefangenen Töne australischer Vögel und Insekten leiten Daniel Weltlingers elegante Komposition „Mr. Fishman“ ein. Und „Tranquille à Sydney“ erzählt vom Lebensgefühl des Großvaters, der endlich Ruhe gefunden hat. Genau wie das ganze Album entpuppt sich das Stück mit seiner Mischung aus nostalgisch anmutenden Melodien, die sich alsbald in groovende Rhythmen und temporeiche Soli auflösen, als dichter Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart, schmerzhafter Erinnerung und optimistischer Zukunftsfantasie. Seine bereits auf vorherigen Alben gepflegte Marotte der Freiluftaufnahmen stellt die assoziative Geigen-Reise wie von selbst in Daniel Weltlingers heutiges Leben, wo auf dem Track „2018“ Kinderlachen und Kirchenglocken aus Berlin tönen.

Dass er hier gelandet ist, war kein Plan. Es ist passiert. „Ich bin mit der europäischen Kultur aufgewachsen, hier sind meine Wurzeln, ich fühle mich wohl in Berlin.“ Auch als Teil der wachsenden Gemeinschaft jüdischer Künstlerinnen von überall her, die seit einigen Jahren mit neuer Begeisterung die jiddische Musiktradition pflegen. Laut Daniel Weltlinger kann das kein Zufall sein. „Ich glaube an Fügungen.“ Die Rückkehr von Großvaters Geige ist eine davon.

Konzerte in Berlin: 8. Mai, 20 Uhr, Wabe; 6. Juni, 21 Uhr, Zig Zag Jazz Club

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