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Die lieben Kleinen. Pokémon-Detektiv Pikachu ist eine führende Figur in diesem Spiel.

© AFP/Matt Winkelmeyer

Popkultur als Machtfaktor: Wie Pikachu und Co. zum Japan-Hype führten – und was dahinter steckt

Entsetzlich niedlich: Japanische Popkultur ist ein weltweites Phänomen. Doch hinter der unschuldigen Fassade steckt eiskaltes Kalkül.

Knopfaugen, kein Mund, dafür eine rosarote Schleife im Haar: Wenn dieser Tage wieder Kinder eingeschult werden, wird von den Ranzen und Zuckertüten Hello Kitty zurückwinken. Seit Jahren ist kaum ein anderes Motiv so beliebt bei den Kleinen. Und bei Erwachsenen. Die Schuhmarke Converse hat eine Hello-Kitty-Linie. Der Onlinemodehändler Asos ebenfalls. Hello Kitty ist überall. Hello Kitty ist süß. Unheimlich. Denn Hello Kitty ist Kawaii, Teil eines eiskalten machtpolitischen Plans.

So wie Hygge der dänischen Gemütlichkeit einen Namen gibt, beschreibt das japanische Kawaii eine besondere Form von Niedlichkeit. Zum Jahrtausendwechsel etablierte sich die Ästhetik im Westen und steht damit für einen allgemeinen Trend zu japanischer Popkultur. Auch Animeserien und japanische Computerspiele feierten zu dieser Zeit ihren weltweiten Durchbruch und prägten eine ganze Generation.

Jetzt scheint der Kult ein Revival zu erleben. Erst im Juni nahm Netflix den Animeklassiker „Neon Genesis Evangelion“ in sein internationales Programm auf. Ein Zeichen dafür, dass Animes Nostalgien wecken. Doch wonach überhaupt?

Pikachu als Maskottchen des Hypes

Die Suche nach dem Ursprung des Japan-Hypes beginnt beim Tamagotchi. Sie waren für viele der erste Kontakt mit Kawaii. Animeserien wie „Biene Maja“ oder „Heidi“ existierten schon in den vorangegangenen Jahrzehnten, und trotzdem änderte der Siegeszug der virtuellen Haustiere, die 1997 von Japan aus die deutschen Schulhöfe eroberten, alles. Eltern waren irritiert, kümmerten sich aber häufig während der Unterrichtszeit um die Fantasiewesen, die gefüttert und gewaschen werden wollten und nicht einmal stubenrein waren.

Weniger hilflos wirkten da die Nachfahren der sensiblen Eierbewohner, die Pokémon. Auf grauen Gameboys kämpften sie gegeneinander, spuckten Feuer oder verschossen Blitze, so wie der berühmteste Vertreter der Spezies: Pikachu. Das Voltknäuel verhalf 1999 der bereits abgeschriebenen Konsole des japanischen Videospieleherstellers Nintendo zum Durchbruch auf dem europäischen Markt. Und wurde zum Maskottchen des Animebooms.

Das hatte auch mit der Serienadaption der „Taschenmonster“ zu tun. Sie wurde zum Hit im Nachmittagsprogramm von RTL2. Seit 1993 lockte der Spartensender Schulkinder nach Unterrichtsschluss vor die Fernseher und entführte sie in bunte Zeichentrickwelten. „Dragon Ball“, „Sailor Moon“, „ Super Kickers“ – knapp 70 verschiedene Serien zeigte der Sender bis 2006. Die Folgen dauerten in der Regel nicht länger als 20 Minuten, um die Werbeblöcke riss sich die Spieleindustrie.

Die 90er als Nostalgiezone

Produktionen wie „Akira“, „Ghost in the Shell“ und „Neon Genesis Evangelion“ fanden aber auch unter jungen Erwachsenen eine treue Fangemeinde. Im Trailer seiner Neuveröffentlichung kündigte Netflix nun „eine der beliebtesten, einflussreichsten und von der Kritik gelobten Animes aller Zeiten“ an. Die Entscheidung des US-amerikanischen Streamingdienstes, „ NGE“ in sein Portfolio aufzunehmen, beruht aber nicht nur auf der zukunftsweisenden Bildsprache, die die Serie damals prägte: kämpfender Riesenroboter und sich in Schutt und Asche verwandelnde Metropolen.

Die Wiederentdeckung ist Sinnbild für einen anhaltenden Nostalgietrend. Jetzt, wo die Millennial-Generation erwachsen wird, schauen viele sehnsüchtig zurück auf ihre scheinbar unbeschwerte Jugend. „Die 90er! Wisst ihr noch…..?“ heißt eine Facebookseite. 1,1 Millionen Menschen haben sie abonniert.

Auch im Tourismus schlägt sich das nieder. Japan ist ein beliebtes Reiseziel bei Mitt- und Endzwanzigern. Social Media Influencer suchen in Tokio, vor dem Fuji oder dem Biwa-See nach Motiven die möglichst „instagramable“ sind. Retro ist hip, in der Mode wie in der Popkultur. Und Japan dabei allgegenwärtig. Anime und Videokonsolen sind fester Bestandteil der kulturellen Sozialisation vieler Millenials. Ariana Grande bewarb ihr neues Album „7 Rings“ mit Kanji-Symbolen und Kawaii-Ästhetik. Die Popkultur im Westen beschäftigte sich schon zum Jahrtausendwechsel auffällig gerne mit Japan. Etwa in Hollywood, wo „Ghost Dog“ von Jim Jarmusch, „Last Samurai“ mit Tom Cruise und Quentin Tarantinos „Kill Bill“ das Motiv des Samurai aufgriffen.

Auch die Horrorfilme „Ring“ und „Der Fluch“ wurden als Remakes japanischer Vorbilder extrem erfolgreich. Madonna verkleidete sich 1999 im Video zu „Nothing Really Matters“ als Geisha, ein Jahr später zeigte Maria Careys Musikvideo zu „Boy (I Need You)“ ein Potpourri an Japan-Klischees: Yakuza, Godzilla, Arcade. In Deutschland war zur selben Zeit Tokio Hotel erfolgreich und machte fast unbemerkt das japanische Rockgenre Visual Kei zum Trend unter Teenagern. Auch wenn die stilistischen Marker – ins Gesicht gekämmte Haare und dunkles Makeup – gerne mit der Emo-Mode verwechselt wurden.

Doch woher kam der Anime-Boom, der vor allem Kinder und Jugendliche zum Ende der Neunzigerjahre erfasste? Fragt man beim Japanisch-Deutschen-Zentrum-Berlin nach, erhält man eine mögliche Erklärung: „Animes boten andere Erzählstrukturen, andere Welten, andere Narrative“, berichtet dort Sascha Lück. Gerade im durchamerikanisierten Westen. „Das bot Räume für neue Identifikationen“. So spiegele sich zwar häufig die hierarchische Gesellschaftsform Japans in Animes wider, mit stark sexualisierten Frauencharakteren und skurril-muskulösen Protagonisten – dennoch würden gerade Geschlechterrollen nicht selten auch persifliert.

Das Genre der Gender Bender Animes widmet sich Charakteren, die zeitweise oder dauerhaft ihr Geschlecht ändern. Für viele war Anime so der Beginn einer Japanfaszination, die über Sushi und Karaoke hinausging. Mangas werden inzwischen auch im Westen literaturwissenschaftlich behandelt, die Frankfurter und Leipziger Buchmessen haben eigene Bereiche für Liebhaber der japanischen Graphic Novels und für Cosplay. Die Rollenspielkultur ist fest mit dem Animedurchbruch in Europa und den USA verbunden.

Es ist nicht das erste Mal, dass Japan im Westen ganz besonders angesagt ist. Nach der Pariser Weltausstellung 1867 kam es unter europäischen Künstlern zur sogenannten Japomanie. Japanische Elemente fanden sich in der Mode und im Jugendstil wieder, Claude Monet, Vincent Van Gogh und Gustav Klimt ließen sich von den Motiven und Bildkompositionen japanischer Maler inspirieren. Ganz ähnlich hat nun, im zwanzigsten Jahr des popkulturellen Donnerschlags Pikachus, Kawaii seine Spuren hinterlassen. So entzücken viele Emojis durch die graphische Verniedlichung und prägen unsere digitale Schreibweise nachhaltig.

Allerdings, und auch das erfährt man im Japanisch-Deutschen-Zentrum, ist Kawaii lange nicht so unschuldig, wie es auf den ersten Blick scheint. Tatsächlich ist es ein wichtiger Teil der „Cool Japan“-Initiative, einer staatlichen Doktrin, durch die sich Japan nach seinem rasanten wirtschaftlichen Aufschwung Mitte des vergangenen Jahrhunderts auch kulturell besser in der Welt positionieren wollte.

So wird schon seit den 80ern versucht, durch Einfluss auf die Popkultur des Westens das Image und die Exportkraft zu steigern. Mit Erfolg. „Soft Power“ wird das im Fachjargon genannt und führt dazu, dass sich Anime- und Computerspielfiguren auch auf Flugzeugen wiederfinden und auf Visitenkarten von Botschaftsmitarbeitern. Während der Closing-Ceremony in Rio de Janeiro verwandelte sich der konservative Premierminister Shinzo Abe in Super Mario, als Einstimmung auf die Olympischen Spiele in Tokio 2020.

Vielleicht gibt es bald eine Neuauflage des Animebooms

Das sportliche Großereignis kommt Japan gerade besonders gelegen. Das Land stand vor allem durch die Fukushima-Katastrophe im Blickpunkt. Zudem ist der historisch tief verwurzelte Konflikt mit Südkorea, das zwischen 1905 und dem Ende des zweiten Weltkrieges unter japanischer Fremdherrschaft stand, vor allem bei Traditionalisten so präsent wie lange nicht. Südkorea droht seinem großen Nachbarn den Rang abzulaufen, ist wirtschaftlich erfolgreicher, wie beim Duell Samsung gegen Sony, und hat plötzlich einen stärkeren popkulturellen Einfluss.

Vielleicht erleben wir also gerade deshalb nächsten Sommer die ganz große Neuauflage des Animebooms. Mit dem Start des Mobile Games „Pokémon Go“ 2016 und dem erst dieses Jahr erschienenen Film „Pokémon: Detektiv Pikachu“ hat sich der gelbe Kawaii-Megastar dafür schon mal in Stellung gebracht.

Jakob Wittmann

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