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Jerry Lee Lewis

© Roland Owsnitzki

Konzertkritik: Jerry Lee Lewis: Der Killer geht von Bord

Steife Flügel: Im Berliner Tempodrom hat Jerry Lee Lewis noch einmal in die Tasten gehauen.

Veteranen genießen in Amerika hohes Ansehen. Als Kämpfer für den amerikanischen Traum und Überlebende der vielen kleinen Kriege um die richtige Lehre werden sie kultisch gefeiert – auch wenn es am Ende manchmal nur für den zweiten Platz reicht. Der Mann, den die Berliner in der Nacht der US-Wahl im Tempodrom feierten, ist so ein Veteran. Er hat so ziemlich alle Kämpfe gefochten, die man so kämpfen kann für den Rock’n’Roll. Mehr als einmal wurde Jerry Lee Lewis tot gesagt, zuletzt von der eigenen Familie nach einer schweren Operation – etwas zu voreilig.

„Last Man standing“ nennt sich die Tour, die den 73-Jährigen auch nach Berlin führte. Tatsächlich sind viele seiner Weggefährten nicht mehr da: Carl Perkins, Johnny Cash, Roy Orbison und natürlich Elvis Presley. Lewis gehört zu jenen, die den Sound des Plattenlabels „Sun Records“ in Memphis prägten, wo einst der Rock’n’Roll erfunden wurde. Als Lewis vor einem Jahrzehnt mit Chuck Berry und Little Richard in Berlin spielte, galt dies schon als Abschiedskonzert. Jerry Lee Lewis ist immer noch da.

Schwarzes Hemd und weiße Weste

Auf der Bühne des gut besuchten Tempodroms erscheint der Rocker in schwarzem Hemd und weißer Weste und mit einer Stunde Verspätung. Die füllt seine 61 Jahre junge Schwester Linda Gall kurzweilig mit Kostproben aus dem rund 300 Titel reichen Repertoire des großen Bruders. Dann eröffnet der Killer kämpferisch: Mit „Roll over Beethoven“ hämmert er jenes Stück in die Tasten des Flügels, das den Angriff der Popkultur auf die tradierten Werte der Klassik zum Programm erhob. Noch immer verfügt Lewis über die berühmte starke Linke, die den Boogie als stampfenden Grundrhythmus in die Tasten hackt, während seine Rechte leicht klimpernd im Rechtsaußen der Klaviatur unterwegs ist.

Die Band, angeführt von dem Gitarristen Kenny Lovelace, der den „Killer“ seit vier Jahrzehnten begleitet, spielt sauber und professionell, fast ein wenig zu glatt für den Boogie Woogie, der einmal als rumpelnder Krach berüchtigt war. In fast jedem Stück schwingt Geschichte mit: in „Trouble In Mind“ der Blues, mit „What I’d Say“ von Ray Charles die Twist-Ära. „Whole Lotta Shakin’ Goin On“, geschrieben von Roy Hall und Dave Williams, wurde einst von den Radiosendern boykottiert, weil der Text zum „Schütteln in der Scheune“ aufforderte – eine Einladung ins Heu.

Schnapsbrenner, Viehdiebe, Trinker

Mit diesem Stück schwang sich der Spross einer Dynastie von Schnapsbrennern, Viehdieben, Trinkern und Gelegenheitsdieben Mitte der Fünfziger zum Charts-Millionär auf. Wie Lewis seinen schlechten Ruf verdiente, erzählt Nick Tosches eindrucksvoll in der soeben in der Edition Tiamat wieder aufgelegten Biographie „Hellfire“. Seinerzeit schockierte er mit der Ehe mit einer minderjährigen Cousine, einer nicht genau bekannte Zahl von Scheidungen und seiner Vorliebe für Schusswaffen. Heute ist es seltsam anrührend, wie der böse Bube, der die Klaviertasten vorzugsweise mit den Absätzen bearbeitete oder das Instrument bei „Great Balls of Fire“ in Brand setzte, nun als alter Mann vor dem Flügel thront, sichtlich steif geworden und auf gelegentliche Einflüsterungen seiner Band angewiesen.

Geblieben ist neben den Liedern das lausbübische Lächeln, wenn der Jubel im Publikum aufbrandet. Früher kam er um seine Fans zu erfreuen, heute wirkt es wie umgekehrt: Die Fans aller Generationen sind gekommen, um ihm noch einmal zu danken. Der Eintritt lässt sich dabei als Soli-Beitrag für den Abbau der Steuerschulden des Künstlers verstehen. Nach einem nur 45 Minuten kurzen „Best Of“ bildet „Whole Lotta Shakin’“ wie immer das letzte Stück des Konzerts. Am Ende seines Konzertes kickt der schlohweiße Jerry Lewis mit einer Kraftanstrengung den Hocker fast so wie früher hinter sich weg und haut ein letztes Mal in die Tasten: mit dem Hintern. Dann geht er leicht schwankend, aber ohne fremde Hilfe von der Bühne.

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