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Hip-Hop: Die Kraft des Kollektivs

Während Stars wie Eminem und 50 Cent schwächeln, erweitern Big Boi und The Roots den Horizont des Hip-Hop

Von Jörg Wunder

Stell dir vor, Eminem bringt eine Platte raus und keiner hört hin. Ganz so weit ist es mit dem erfolgreichsten Albumkünstler der nuller Jahre noch nicht gekommen. Aber wenn man die relative mediale Funkstille anlässlich der Veröffentlichung von „Recovery“ mit dem Bohei vergleicht, der früher um das Großmaul aus Detroit gemacht wurde, kann man das als Symptom der allgemeinen Krise deuten, die das Hip-Hop-Business erfasst hat.

Dominierten Topseller wie 50 Cent, The Game oder Eminem bis zur Mitte des Jahrzehnts die US-Charts, so schaffte es 2009 lediglich letzterer auf Rang 15 der Jahresabrechnung. Und dabei war „Relapse“, Eminems am schlechtesten verkaufte Platte, noch ein Volltreffer im Vergleich zu dem Absturz, den sein Konkurrent 50 Cent erdulden musste. Dessen letztes Werk „Before I self destruct“ ging in den USA lächerliche 400 000 Mal über die Ladentheke. Ein Zwanzigstel der acht Millionen Exemplare, die dort von seinem Debütalbum verkauft wurden.

Die Ursachen für das Hip-Hop-Dilemma werden kontrovers diskutiert. Die das gesamte Musikgeschäft erfassenden Umsatzeinbrüche wurden durch eine kreative Krise noch potenziert. Reime, die sich mit bleierner Redundanz um ein narzisstisch verengtes Gangsta-Rap-Universum drehen, reflektieren den intellektuellen Niedergang einer früher politisch relevanten Textkultur. Hinzu kam die stilistische Verarmung. Weil die legale Nutzung von Samplings immer schwieriger wurde, verödete diese in der anarchischen Frühzeit des Hip-Hop viel verbreitetere Technik. Heute sampelt nur, wer die horrenden Honorare der Copyright-Anwälte bezahlen kann.

Der interessanteste Hip-Hop entsteht seit Jahren an den Rändern der Szene. Manchmal mit erstaunlichem Erfolg: So veröffentlichten OutKast 2003 ein vogelwildes Doppelalbum, mit dem sich das Südstaaten-Duo monatelang an die Spitze der Charts katapultierte. Nun bringt einer der beiden, Antwan Patton alias Big Boi, sein erstes Soloalbum raus. Das Werk mit dem Titel „Sir Lucious Left Foot… The Son of Chico Dusty“ ist auf faszinierende Weise zerrissen. Big Boi, der neben seinem flamboyanten Partner André 3000 als konservativere Hälfte von OutKast gilt, scheint dies zu bestätigen, indem er auf den 15 Songs vorzugsweise um die materialistischen Hip-Hop-Themen kreist: dicke Schlitten, Pussys, Klunkern.

Schon spannender, dass er sich ein Repertoire fiktionaler Persönlichkeitsabspaltungen ausdenkt, was an seltsame Black-Music-Konzeptalben der Siebziger erinnert. Noch besser, dass er sich musikalisch keinen Deut um die Reinheitsgebote des Hip-Hop schert. Höhepunkt eines äußerst abwechslungsreichen Albums, das mit den verwinkelt groovenden „Shutterbugg“ und „Night Night“ zwei mögliche Klassiker enthält, ist ein Stück fernab vom Genre-Konsens. „Be Still“ ist traumverlorener Disco-Synthie- Pop, hingebungsvoll gesungen von der OutKast-Entdeckung Janelle Monáe, die selbst bald das fantastische Science-Fiction-Soul-Album "The ArchAndroid" veröffentlichen wird.

Einen viel versprechenden Ansatz, ein todgesagtes Genre wiederzubeleben, verfolgen The Roots auf ihrem neunten Album „How I got over“. Das siebenköpfige Kollektiv aus Philadelphia, seit 20 Jahren eine der wenigen echten Hip-Hop-Bands, hat stets seine Wurzeln im Funk und Soul gepflegt, was sich auch in den mitreißenden Auftritten eines der zuverlässigsten Live-Acts des Genres äußerte.

Jetzt erweitern sie ihren Horizont in Richtung Folk und Americana, was insofern bemerkenswert ist, als es bislang wenig Berührungspunkte zwischen Hip-Hop und der blühenden amerikanischen Indie-Szene gab. Doch wenn Joanna Newsom auf „Right On“ ihre unverkennbare Stimme erhebt oder Conor Oberst und seine Monsters Of Folk „Dear God 2.0“ mit wehmütigem Gesang veredeln, erkennt man das Potenzial dieser noch wenig erprobten Kollaboration. Was auch umgekehrt gilt: Newsom oder Oberst mit dem tiefenentspannten Qualitätsgroove der Roots? Aber immer.

Was kann Eminem dagegenhalten? Der letzte Hip-Hop-Blockbuster setzt auf geballte Gaststar-Power – Rihanna, Pink und Lil’ Wayne haben prominente Auftritte – und konzentriert sich ansonsten auf fette Beats und seine Kernkompetenzen. Als Gift und Galle spuckende Krawallschachtel ist der einstige Trailerpark-Bewohner immer noch eine sichere Bank. Und richtig teure Samples wie Haddaways „What is Love“ kann er sich auch leisten. Langweiliger als Big Boi oder The Roots bleibt er trotzdem.

Die Alben von The Roots und Big Boi sind auf Def Jam/Universal erschienen, „Recovery“ auf Aftermath/Universal.

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