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Natürlich schüchtern. Antony Hegarty.

© promo

Antony and The Johnsons: Der Ozean ist groß und weiß

Ganz großes, aber auch ganz leises Ohrenkino. Zum Zerbrechen zart: "Swanlights" – das neue Album von Antony and The Johnsons.

Von Jörg Wunder

Es gibt Situationen, da kann man diese Musik nicht ertragen. Ein sonniger Herbstnachmittag, auf den Straßen fröhliche Menschen, die sich angeregt unterhalten – wer sich unter solchen Bedingungen der neuen Platte von Antony and The Johnsons aussetzt, wird sich völlig deplatziert fühlen. Man muss diesen mehr denn je zum Zerbrechen zarten Liedern seine volle Aufmerksamkeit widmen, muss sich mit ihnen zurückziehen in einen emotionalen Schutzraum. Dann verwandelt sich dieser von Weltschmerz und Realitätsflucht angekränkelte Kammerpop in die schönste, traurigste, intimste, erhabenste und trostspendendste Musik, die überhaupt denkbar ist.

Wie ein Kokon umschmiegt einen der einzigartige Gesang von Antony Hegarty, der keineswegs, wie immer wieder zu lesen ist, eine Knabenstimme besitzt. Sondern eine, die schwerelos zwischen Lebensaltern und Geschlechtern wie zwischen allen Stimmlagen von Mezzosopran bis Bariton zu wandeln scheint. Das Transitorische ihres Klangs spiegelt dabei die sexuelle Identität des 39-Jährigen, der sich seit frühester Jugend als weibliche Person in einem männlichen Körper empfindet.

Nun ist das alles nicht mehr so außergewöhnlich, wie es noch vor einigen Jahren war. „Swanlights“ ist Antonys viertes Album. Auch wenn er stets ein wenig weiter in die unkartografierten Randbereiche zum Operngesang vordringt und unlängst sogar für den Werbespot einer italienischen Kaffeefirma Puccinis unvermeidliches „Nessun dorma“ intonierte, ist der Effekt des Neuen verflogen, mit dem er 2005 auf seiner Durchbruchsplatte „I Am a Bird Now“ ein verblüffend großes Publikum erreichte. Antony ist längst ein Star. Keiner des Mainstreams, aber einer des Pop-Bildungsbürgertums, das sich über die Exklusivität seines Geschmacks definiert. Es ist ein dankbares, aber auch kritisches Publikum, das sich durchaus anderem zuwendet, wenn sich der Vorwurf der Stagnation manifestieren sollte, wie er bereits in einigen Kommentaren zu „Swanlights“ mitschwingt. Wenn sogar das queere Berliner Stadtmagazin „Siegessäule“ missmutig „Wie viele Alben von Antony and The Johnsons braucht der Mensch?“ titelt, muss man sich womöglich Sorgen machen.

Aus Konsumentensicht mag die Frage berechtigt sein, aus der Perspektive des Künstlers ist sie ebenso gegenstandslos wie der Vorwurf des Stillstands. Sicherlich mag es enttäuschte Hoffnungen geben, weil Antony den Pfad zu einer offensiveren Form von Popmusik nicht weiter beschreitet, den er auf seiner letzten Platte „The Crying Light“ zaghaft und als Gastsänger der Neo-Disco-Band Hercules And Love Affair ziemlich entschlossen betreten hatte. Doch Antony ist eben nicht das Transgender-Pendant zu Beth Ditto, die es als exaltiertes Energiebündel vom Indierock-Mauerblümchen zur lesbischen Pop- und Mode-Ikone gebracht hat.

Auch wenn Antony bei Konzertauftritten nicht mehr den Eindruck macht, als wollte er am liebsten in seinen wallenden Kleidern verschwinden, ist ihm die glitzernde Selbstinszenierung der Popmusik wesensfremd. Seine Schüchternheit ist keine Koketterie. Das könnte auch den schwer vermittelbaren und geradezu erfolgsvermeidenden Naturmystizismus von „Swanlights“ erklären. Und wer hat wirklich noch auf ein Duett mit Björk gewartet? Noch dazu eines, das sich in Form des versponnenen „Flétta“ wie ein Überbleibsel von deren letzter Platte „Volta“ anhört – weil Antony, wie es seine Art ist, höflich in die zweite Reihe tritt und die Isländerin ihre Manierismen ausbreiten lässt? Wer folgt Antony in die maritimen Mysterien von „The Great White Ocean“, wer spürt mit ihm in „Ghost“ oder „The Spirit Was Gone“ dem elementaren Widerhall verstorbener Kreaturen nach?

Und das alles zu einer Musik, die in ihrer sukzessiven Verfeinerung stets auf ihr mögliches Verschwinden verweist. Natürlich nur von erlesensten Begleitmusikern unter Einbeziehung des London Symphony Orchestras eingespielt. Ganz großes, aber auch ganz leises Ohrenkino. Nur selten mal aufbrausend wie im hymnischen „Thank You For Your Love“, das in eine orgiastische Gospelsoul-Repetition mit Pauken und Trompeten mündet.

Stagnation? Unfug. Eine Platte, die einen durch einen langen Winter tragen kann. Oder durch das ganze Leben. Wie viele Platten von Antony braucht der Mensch? So viele, wie es gibt.

„Swanlights“ ist bei Beggars/Indigo erschienen.

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