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Riss durch die Geschichte: Detail aus dem „Alexandermosaik“, das 1831 in Pompeji ausgegraben wurde. Es zeigt Alexander den Großen (links oben), vermutlich in der Schlacht von Issos (333 v. Chr.) gegen den Perserkönig Dareios III.

© picture alliance / abaca

Pompeji: Die zweite Zerstörung

Bröckelnde Mauern, Müll, Sorglosigkeit: Pompeji geht zugrunde, weil Italien sein Erbe vernachlässigt. Ein Besuch in der Ruinenstadt.

Hier wurde Geschichte geschrieben. So steht es auf dem T-Shirt des kugelbäuchigen Getränkeverkäufers am Eingang zum Archäologischen Park von Pompeji. Allerdings gilt der Hinweis nicht der Antike, sondern „El Diego“, Nachname: Maradona, der einst mit dem SSC Neapel italienische Meisterschaften und den Uefa-Cup gewann. „Aus Sicherheitsgründen“, warnt ein Schild am Kassenhaus, „bitten wir die Besucher, den Kontakt mit den auf dem Gelände herumstreunenden Hunden zu vermeiden.“

Es sind große, schwerfällige Hunde, die wenig streunen, hauptsächlich liegen, nicht nur zwischen den Ruinen von Pompeji, sondern auch überall auf den Straßen und Plätzen von Pompei, der heutigen 25 000-Einwohner-Stadt, zu deren Bild sie gehören wie sonst nur die Konterfeis vom Padre Pio und dem Komiker Totò in den Souvenirshops.

Der Museumspark, der jährlich 2,5 Millionen Menschen anzieht, erinnert an einigen Stellen mehr an einen Landschaftsgarten als an eine Ausgrabungsstätte. Vögel zwitschern, eine Pinienallee führt zum Amphitheater, einem Oval, in dessen oberen Rängen Gras wächst. 20 000 Zuschauer – etwa doppelt so viele Menschen, wie Pompeji Einwohner hatte – fanden hier Platz. 59 nach Christus kam es bei Gladiatorenkämpfen zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Pompejanern und Gästen aus dem benachbarten Nuceria. Das Amphitheater wurde daraufhin für einige Jahre geschlossen. Nördlich von der einstigen Vergnügungsstätte liegt das Foro Boario, wo heute wieder Piedirosso angebaut wird, eine Rotweinsorte, die schon die alten Römer schätzten. Dunkel ragt dahinter der Vesuv auf, dessen Ausbruch im Jahr 79 nach Christus Pompeji den Untergang brachte. Damals erhob sich, wie Plinius der Jüngere festhielt, aus dem Vulkan eine Wolke, „deren Gestalt am ehesten einer Pinie glich“. Dreißig Kilometer hoch soll die Eruptionssäule gewesen sein, ein Spektakel, über das die Menschen staunten, bevor sie im Gesteinshagel und Gasnebel starben.

„Die Alten wohnten doch ziemlich enge. Die Stadt muss aber bei dem allen prächtig gewesen sein“, schreibt Johann Gottfried Seume, der 1802 zu Fuß von Sachsen nach Syrakus lief. 1748 hatten systematische Grabungen in Pompeji begonnen, ab 1763 konnte das Grabungsfeld besucht werden. Pompeji wurde zu einer Hauptattraktion auf der Grand Tour vornehmer Reisender durch Italien. Der Landschaftsmaler Giacinto Gigante hielt frühe Touristen fest, die in nächtlichem Kerzenschein auf weiß gedeckten Tischen zwischen den antiken Häusern dinierten. „Es ist viel Unheil geschehen, aber wenig, das den Nachkommen so viel Freude gemacht hätte“, befand Goethe 1787 und schwärmte von der „Kunst- und Bilderlust eines ganzen Volkes“.

Allerdings: Mit den Ausgrabungen begann auch die zweite Zerstörung Pompejis. „Es ist etwas mehr als unartig, dass die alten schönen Wände so durchaus mit Namen bekleckst sind. Ich habe viele darunter gefunden, die diese kleine Eitelkeit wohl nicht sollten gehabt haben“, monierte bereits Seume. Gekleckst, auch gekratzt wird bis heute. Namen wie Michelle, Nino und Ciro finden sich selbst auf in pompejanischem Dunkelrot verputzten, oft mit prachtvollsten Fresken bedeckten Wänden in den Innenräumen der Gebäude. In den engen Gevierten des Stadtzentrums, wo sich kleine Handwerkshäuser, Herbergen und antike Gaststätten aneinanderreihen, ist Pompeji eine Geisterstadt.

Die Spuren des einstigen Lebens sind überall präsent. Auf den von vielen Füßen abgetretenen Bürgersteigen, in den Spurrillen von Wagenrädern auf dem gewölbten Straßenpflaster dazwischen, in den Einkerbungen der Brunnen, die von Seilwinden stammen müssen. Vor allem in den lateinischen Inschriften, mit denen die einstigen Besitzer ihre Gebäude bezeichneten oder mit denen sie für den Besuch ihres Geschäfts oder Lokals warben. Doch viele Buchstaben sind verblasst, darunter auch die berühmte Warnung „Cave canem“, achtet auf den Hund. An einigen Stellen sollen Plexiglasabdeckungen die Schriftzeichen vor der Sonne schützen, eine unter Denkmalschützern umstrittene Maßnahme. Zwischen Stein und Plexiglas kann Schimmel wuchern.

Seit 1997 gehört Pompeji mit seinen 1500 Großobjekten – Wohnhäuser, Tempel, Thermen, Foren, Arenen – zum Unesco-Weltkulturerbe. Aber das Erbe ist akut bedroht. Die Plastikflaschen und Essenstüten, die die Besucher auf dem Gelände hinterlassen, sind noch das kleinste Problem. Auch dass kaum Museumswärter zu sehen sind und es nur an wenigen Stellen Videoüberwachung gibt: egal. Es geht um Grundsätzliches, um die Substanz. Als 2010 nach starken Regenfällen die Gladiatorenschule in der Via dell’Abbondanza einstürzte, sprach Italiens Staatspräsident Giorgio Napolitano von einer „nationalen Schande“. Ein Jahr später kollabierte eine Mauer in der Nähe des Stadttores Porta di Nola. Zuletzt konstatierte die Zeitung „Corriere della Sera“ Anfang Juli einen katastrophalen Zustand der Ausgrabungsstätte. Von 40 Häusern, die zugänglich sein sollten, konnten nur vier besichtigt werden. Die einzigen Toiletten der Anlage waren nach einem Defekt nicht repariert worden. Dabei hatte die EU gerade erst 105 Millionen Euro Fördermittel gezahlt.

„Man muss sich ernsthaft Sorgen machen“, sagt Alfried Wieczorek, Generaldirektor der Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen. Er organisierte 2004 eine große Pompeji-Ausstellung und steht seither im engen Kontakt mit den dortigen Archäologen. „Offenliegende antike Stätten sind besonders gefährdet. Das Mauerwerk kann nur schwer geschützt werden, deshalb wird es auch zu weiteren Einstürzen kommen.“ Es gibt durchaus fähige Restauratoren und Denkmalpfleger vor Ort, an der Spitze der Superintendent Giuseppe Proietti. Aber es sind zu wenige, und sie klagen darüber, dass die Mittel für Pompeji versickern.

„Praktisch vor der Haustür liegen große Mafiastädte“, stellt Wieczorek fest. „Die Camorra verdient das Geld um und in Pompeji.“ So sollen die Gewerkschaften, in denen sich Fremdenführer und Museumswärter zusammengeschlossen haben, von Clanchefs kontrolliert werden. Wieczorek hofft auf internationalen Druck und darauf, dass eine Institution geschaffen wird, die Fördergelder direkt der Superintendanz zur Verfügung stellen könnte. Ein Gutes hat auch die Größe der antiken Stadt. Das bisher ausgegrabene Gelände umfasst 44 Hektar, weitere 22 Hektar sind unerschlossen. Schätze, die noch nicht gehoben wurden, bleiben geschützt.

Denn das, was ans Licht kommt, kann auch schnell verloren gehen. So ist die Ende des 18. Jahrhunderts ergrabene Villa di Cicerone regelrecht ausgenommen worden. Sie besaß eine Kaskade von Terrassen, Sälen und Säulengängen, so luxuriös, dass man Cicero als ihren Besitzer vermutete. Die Mosaiken wurden aus den Böden gebrochen, Fresken von den Wänden abgenommen und nach Neapel gebracht. Danach überließ man das Gebäude sich selbst, die Stützen unter den Terrassen gaben nach, alles stürzte den Hügel hinab. Und eine Weinbauernfamilie, die 1900 auf ihrem Anwesen die Villa des Publius Fannius Sinistor entdeckte, verkaufte Teile eines um 40 vor Christus entstandenen Freskenzyklus, der wohl die Weissagung der Geburt Alexanders des Großen darstellte, an den Pariser Louvre und einige komplette Nebenräume an das New Yorker Metropolitan Museum.

Wer Pompeji besucht, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Die Stabianer Thermen, ein antikes Schwimm- und Dampfbad, erweisen sich als Abfolge von großzügigen Wunderkammern. Es gibt Bereiche für Frauen und Männer, in den Rundbögen der Durchgangsräume finden sich deckenhohe Reliefs und Fresken, das Licht fällt dramatisch durch kreisrunde Kuppelöffnungen. Aber alles – zarteste Darstellungen von Pflanzen, Tieren und Mythenwesen – ist schutzlos der Witterung preisgegeben. In sargartigen Schaukästen liegen die Gipsabgüsse zweier Männerleichen, die hier gefunden wurden. Der eine Mann ruht in gekrümmter Seitenlage, den Kopf auf eine Hand gestützt. Er scheint zu schlafen.

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