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Entdeckerin. Esther Kinsky vor dem Buchbund in Neukölln, wo sie „Polnisch poetisch“ präsentiert.

© Davids / Nareyek

"Polnisch poetisch": Neue Bilder, neue Töne

Poesie aus Polen: Die Schriftstellerin Esther Kinsky gibt Dichtern aus dem Nachbarland ein Forum. Ein Salonbesuch.

Freitagabend in Neukölln, auf dem Kottbusser Damm wogt freiheitstrunkener Tumult. Passend zur Spielwiesenstimmung verkündet zwischen Edeka und Mäc-Geiz ein Plakat der Piraten: „Grenzen sind so 80er“. Gleich um die Ecke, in der deutsch-polnischen Buchhandlung Buchbund in der Sanderstraße, ist die Parole buchstäblicher zu fassen. Was hier auf den Tischen ausliegt und in den Regalen steht, führt in die Mitte europäischen Denkens: ins Kosmopolnische.

An jenem Aprilabend ist Jacek Gutorow im Buchbund zu Gast. Es ist die erste von insgesamt sechs Veranstaltungen in der Reihe „Polnisch poetisch“, konzipiert von der Schriftstellerin und Übersetzerin Esther Kinsky. Sie moderiert jeden der Abende und hat die Gedichte, die vorgestellt werden, auch übersetzt. Am Vorabend ist in Wrocław Tadeusz Różewicz gestorben. Gutorow beginnt mit zwei Gedichten dieses Lyrikers, der wie kein zweiter die polnische Poesie nach 1945 prägte. Różewicz Verse, mit einem Wort der Dankbarkeit – das sagt an diesem Abend mehr als jeder hoch gestochene Satz in Sachen intertextueller Diskurse.

Gutorow ist ohnehin kein Freund von hohen Rössern. „So schaue ich nur zu, wie sich die Dinge wandeln“, heißt es in seinem Gedicht „Metamorphosen“. Diesen Wandel der Dinge spürt er „draußen“ auf – das Wort „Natur“ vermeidet er bewusst. Viele der Betrachtungen sind zugleich Reflexionen von Lektüren. Seine Landschaften füllen sich weniger mit Empfindung als mit Geschehenem, und das Wissen um die Unhintergehbarkeit des Wirklichen erlegt der Nostalgie Zurückhaltung auf. In dem Gedicht „Hebräische Sprache – nach Charles Reznikoff“ heißt es: „Auch ich habe nur zwei Zeiten:/ Die Erinnerungszeit und die Sehnsuchtszeit.// Die Erinnerungszeit: So vieles ist vergangen./ Die Sehnsuchtszeit: So vieles wird nicht geschehen.“

Einen Monat später ist Marta Podgórnik zu Gast. 1979 geboren, debütierte sie mit 17 Jahren und hat seitdem viel beachtete Lyrikbände vorgelegt. Ihre Texte sind provokant, bitter, absurd, immer wieder auch getragen von einer subtilen Komik. Podgórnik nutzt ein breites Sprachspektrum, mischt, zitiert und collagiert die verschiedensten Formen und Stimmen. Ihre Zwiesprache mit der Tradition kreist um Fragen der Identität. Romantische Idyllen überführt sie in Gender-Diskurse, Poetologisches verkörpert sich in „Rockstar“ und „Disco-Queen“, und der Engel, der diesen Versen entsteigt, ist ein Metaphysiker der skeptischen Präzision.

Auch die Namen der vier künftigen Autoren – Dariusz Sośnicki, Adam Wiedemann, Jakobe Mansztajn und Katarzyna Fetlińska – werden dem deutschen Publikum weitgehend unbekannt sein. Gemeinsam ist den Eingeladenen, dass sie für einen neuen Ton in der polnischen Lyrik stehen. Mit Ausnahme Adam Wiedemanns wurden sie alle nach 1968 geboren, die Mehrzahl der Debüts fiel bereits in die Zeit nach der Wende. Über ihr lyrisches Schaffen hinaus prägen sie auch als Kritiker, Redakteure oder Übersetzer die gegenwärtige Literaturszene.

Die neuen polnischen Dichter suchen Themen jenseits des Nationalen

Entdeckerin. Esther Kinsky vor dem Buchbund in Neukölln, wo sie „Polnisch poetisch“ präsentiert.
Entdeckerin. Esther Kinsky vor dem Buchbund in Neukölln, wo sie „Polnisch poetisch“ präsentiert.

© Davids / Nareyek

Esther Kinsky, die zuletzt den Gedichtband „Naturschutzgebiet“ veröffentlichte und 2011 mit dem „Roman „Banatsko“ auf der Longlist des Deutschen Buchpreises landete, charakterisiert den „neuen Ton“ so: „Ich sehe hier eine Rückkehr zum Bild, zur Melodie, zum Rhythmus. Diese sechs Autorinnen und Autoren schöpfen natürlich aus der Tradition, aber nicht mehr unter dem Hauptvorzeichen der Polnischkeit.“ Die 1956 geborene Autorin ergänzt: „Insbesondere interessiert mich auch der Einfluss amerikanischer und englischer Lyrik. Jacek Gutorow, Dariusz Sośnicki und Adam Wiedemann übersetzen aus dem Englischen, immer wieder tauchen Bezüge auf zu W. H. Auden, John Ashbery, Wallace Stevens, der Umgang mit den poetischen Formen der englischsprachigen Lyrik hinterlässt in der polnischen Lyrik seine Spuren.“

Das Stichwort „Polnischkeit“ führt auf dem kürzesten Weg zur Auseinandersetzung mit der Geschichte. Eben dafür ist die polnische Literatur immer bekannt gewesen – dass ihr Gedächtnis weit zurückreicht. Dieser ungeheure Fundus an Tradition, der nicht zu trennen ist vom polnischen 19. Jahrhundert, wird im Schaffen der jüngeren Generation zum Material eines kritisch-produktiven Dialogs. Esther Kinsky, die in Berlin und dem ungarischen Battonya lebt, verweist auf einen Essay von Dariusz Sośnicki, der die Prozesse poetischer Revisionen seit den neunziger Jahren beleuchtet: „Sośnicki sieht das Neue in der Überwindung des ,Verlustdenkens’, das so oft als die treibende Kraft und Stärke der polnischen Lyrik galt. Die neue Generation arbeitet nicht mehr auf der Grundlage dieses Verlusttraumas, es geht um die Welt um uns herum, um das Benennen der Dinge auf eine neue Weise, daher auch dieser Mut zu Bildern, die nicht ,national’ belegt sind. Für mich liegt der große Schritt zu etwas Neuem in der Absage an die Polnischkeit als Definition der Identität.“

Ebenso lässt das Stichwort „Polnischkeit“ an unermüdlichen Eigensinn denken. Hier wäre vor allem Adam Wiedemann zu nennen (er kommt im September in den Buchbund), der sich mit seinem Schreiben Miron Białoszewski verbunden fühlt. Wiedemanns Vorliebe für die Absurdität und poetische Intensität des Banalen, die Sprache der Straße und die assoziative Montagetechnik ist inspiriert von dem großen Querdenker, der 1983 im Alter von 61 Jahren starb.

Wer nach den beiden ersten Veranstaltungen der Reihe noch eine Weile im Buchbund den Gesprächen zuhörte, sah sich in der Vermutung bestätigt, dass die Neugier am leichtesten im unmittelbaren Austausch geweckt wird. Polen liegt von Berlin aus nur einen Katzensprung entfernt (der jenseits der Grenze „Froschsprung“ heißt). Trotzdem bedarf es nach wie vor einer kleinen Anstrengung, sich diese Nähe bewusst zu machen. Dabei könnte die schöne Initiative helfen, die der Berliner Klak Verlag nun ergriffen hat: Er möchte den Gedichten der Reihe „Polnisch poetisch“ – in der Übersetzung Esther Kinskys – eine eigene Edition widmen.

Lesung von Dariusz Sośnicki, 20.6., 19 Uhr in der deutsch-polnischen Buchhandlung Buchbund, Sanderstraße 8, Neukölln.

Lothar Quinkenstein

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