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Suche nach einer tragfähigen Idee von Freiheit jenseits aller Ideologien. Lea Ypi.

© Henning Kretschmer

Politische Theorie als Literatur: Freiheit ist auch nur ein Wort

Nach dem Tyrannen kamen die Raubritter: Lea Ypi erinnert sich an ihre Mädchentage in Albanien.

Von Gregor Dotzauer

Das große Glück dieses Buches ist die Folge eines kleinen Unglücks. Was heißt Freiheit aus liberaler und was aus sozialistischer Sicht? Welche Vorstellungen von Gerechtigkeit ergeben sich daraus? Das waren die Fragen, die Lea Ypi, wie sie in „Frei“ gesteht, ursprünglich so abstrakt verhandeln wollte, wie sie es als Professorin für Politische Theorie an der London School of Economics gewohnt ist.

[Lea Ypi: Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte. Aus dem Englischen von Eva Bonné. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.

333 Seiten, 28 €.]

Ihr begriffliches Werkzeug stammt von Marx und Hegel, Kant und Rawls. Die Erfahrungen aber, an denen sie als 1979 in Tirana geborene Albanerin es jeden Tag aufs Neue überprüfen muss, sind die späten Jahre von Enver Hoxhas finsterer Herrschaft über das weltweit isolierte kommunistische Land und, fünf bittere Jahre nach dem Tod des Diktators 1985, der Aufbruch in die Ära eines kapitalistischen Raubrittertums. Niemand lebt außerhalb seiner Zeit.

Deshalb verwandelten sich die Ideen, mit denen sie hantierte, unter der Hand in Porträts von Menschen. Die Philosophin hatte eine Literatin geboren. Aus der Perspektive des Mädchens, das Ypi war, begegnet man einem Panoptikum bunter Gestalten, an denen sich die Geschichte abarbeitet – Familienaufstellung inklusive. Neben der Großmutter Nini, die ihr als erste Sprache Französisch beibringt, die Sprache, die sie einst in Thessaloniki unterrichtete, rücken vor allem die Eltern in den Blick.

Wer hilft einem Krüppel?

Während die für die neue Demokratische Partei aktive Mutter einigermaßen mit dem Epochenbruch zurechtkommt, scheitert der Vater als neuer Generaldirektor des Hafens von Durrës an den marktwirtschaftlichen Imperativen. Herzzerreißend die Szene, in der er vor Ziku, dem beinlosen Roma-Krüppel, für den er immer ein Almosen übrig hatte, und einer Menge Arbeitsuchender in Tränen ausbricht, weil er erkennt, dass er im Angesicht eines alles erfassenden Leistungsprinzips nicht umhin kommt, Kündigungen auszusprechen.

Unvergesslich auch die Porträts von Flamur, schon als Kind ein ewiger Fiesling, der sich später als Taschendieb durchschlägt. Von Nora, der Lehrerin, die auch im Zeichen des Zusammenbruchs an offiziellen Doktrinen festhält. Oder von Donika, der Nachbarin, die den Ypis das Statusobjekt einer leeren Coladose aus dem Wohnzimmer entwendet und in das ihre verschleppt.

Sie alle sind auch Gefangene ihrer Rollen, ihrer Herkunft, ihres Schicksals – aber eben nicht ausschließlich. Eine Lehre aus Ypis anekdotischem Zugriff ist die Erkenntnis, dass Personen immer mehr sind als die Strukturen, in denen sie agieren. Hatte sie nicht immer Marx misstraut, wenn dieser behauptete, dass Arbeiter oder Grundeigentümer in seinen Schriften nur die „Personifikation ökonomischer Kategorien“ und „Träger von bestimmten Klassenverhältnissen“ seien? Wenn dieses Memoir vor allem ein erinnerungssattes Stück erzählender Prosa ist, so läuft doch ständig eine theoretische Gegenstimme mit: Der unverwechselbare Ton von „Frei“ entsteht aus dieser Zwitterhaftigkeit.

Von ferne der Schrecken

Der objektive Schrecken der Jahre mit „Onkel Enver“ wird dabei durch die – nicht ganz konsequent durchgehaltene – kindliche Perspektive gemildert. Die Eltern halten das Ausmaß der kommunistischen Kontrolle und Unterdrückung von ihren Kindern fern. Nur vage dringt in ihr Bewusstsein, wie gefährdet man im eigenen Lande lebt. Gerade das oft wolkige, andeutende Sprechen im privaten Umgang offenbart jedoch die unheimliche Seite eines vordergründig zuweilen pittoresken Alltags.

Da ist die alles erklärende „Biografie“, ein Wort, das pauschal die zu erwartenden Privilegien und Nachteile durch die Umstände der jeweiligen Klassenzugehörigkeit bezeichnet, bei den Ypis namentlich die zur Klasse der Intellektuellen, also der Studierten. Oder der Euphemismus, mit dem die Älteren von Abschlüssen an Universitäten reden, die nur in mysteriösen Initialen auftauchen: Hinter den Chiffren verbergen sich Straflager. Ein Wortschleier überzieht die Verhältnisse, der nur darauf wartet, weggezogen zu werden.

1990 verschwinden die offenen Lügen und die Sprechverbote, und doch findet mit der abrupten Umwertung aller Werte vor allem ein Austausch des welterklärenden Vokabulars statt. Anstelle der „Partei“ ist fortan von der „Zivilgesellschaft“ die Rede. Die „Privatisierung“ ersetzt die „Kollektivierung“ und die „Transparenz“ die „Selbstkritik“. Eine Fülle neuer Zauberwörter verspricht eine gloriose Zukunft unter entgegengesetzten Vorzeichen.

Formelhafte Unzulänglichkeit

Lea Ypi zeigt die formelhafte Unzulänglichkeit beider Vokabulare und verweist auf das Unerlöste, das in den Freiheitsmöglichkeiten beider Gesellschaften steckt: Auch im kommunistischen Albanien waren sie nicht völlig ausgelöscht. In zwei durch die Systemzäsur voneinander getrennten Teilen verfolgt sie die jüngste Geschichte Albaniens bis ins Jahr des Bürgerkriegs 1997.

Als „Lotterieaufstand“ ging er in die Annalen ein, nachdem zahllose Albaner ihr Vermögen an ein betrügerisches Pyramidensystem verloren hatten. Sie erzählt aber auch von den vielen, oft schmählich endenden Fluchten ins benachbarte Italien, die im Zuge der neu gewonnenen Bewegungsfreiheit Massenmigrationswellen auslösten.

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Die staunenswerte Erinnerungsgenauigkeit, mit der sie im ersten Teil Kindertage beschwört, die ihr nur noch entfernt vor Augen stehen können, verdankt sich zu einem Gutteil literarischer Einbildungskraft. Ypi, die mit 16 Jahren einen Gedicht- und mit 18 einen Erzählungsband veröffentlichte, hat sie früh geübt. Von den Wendejahren an konnte sie dagegen auf Tagebücher zurückgreifen, die sie auch immer wieder zitiert.

Wenn „Frei“ ein Manko hat, dann, dass dieses politisch so sprachkritische Buch diese Genese nicht in der Weise mitreflektiert, wie es für viele autofiktionale Werke selbstverständlich ist. Die entscheidende Botschaft, wie sie im Motto von Rosa Luxemburg anklingt, vernimmt man auch so: „Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie.“

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