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Wahlmünchner, Literatur und Gesellschaftskritiker. Jonas Lüscher.

© Geri Born

Poetikvorlesungen von Jonas Lüscher: Literatur im Widerstand gegen die Macht des Marktes

Immer mehr deutsche Literaten entdecken den Kapitalismus als Thema ihres Schreibens. Auch Jonas Lüscher übt sich in seinen Poetikvorlesungen an der Kritik.

Welche Aufgabe hat die Literatur im Zeitalter des digitalisierten Kapitalismus? Für Jonas Lüscher sind Narrationen ein dringend notwendiges Gegengewicht angesichts der „quantitativen Blendung“, die unsere Gesellschaft kennzeichne.

Damit meint der Schweizer Autor den totalitär gewordenen Kapitalismus, der seit dem späten 20. Jahrhundert in sämtliche Gesellschafts- und Lebensbereiche eingedrungen sei und noch das Privateste und Intimste einer Kosten-Nutzen-Rechnung unterstelle. Umso wichtiger sei es, so Lüscher, im Medium der Literatur am Beispiel von Einzelfällen die Folgen dieser „Durchökonomisierung“ zu erkunden.

Eben dies hat der 43-jährige Wahlmünchner in seinen bisherigen Prosawerken unternommen. So ließ Lüscher in seiner 2017 für den Deutschen Buchpreis nominierten Gelehrtensatire „Kraft“ einen Vordenker des Neoliberalismus so hautnah dessen Verwirklichung erleben, dass dieser an seinem eigenen Weltbild schier irre wird.

Wenn man jetzt noch an Nora Bossong, Thomas von Steinaecker oder Philipp Schönthaler denkt, lässt sich sagen: Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur hat endlich die Bedeutung der Ökonomie entdeckt! Über diese Entwicklung dürfte sich nicht nur Ernst-Wilhelm Händler freuen, der hierzulande das Feld des Wirtschaftsromans zwei Jahrzehnte lang quasi im Alleingang beackerte.

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Zu gern wüsste man, was Lüscher zur Coronakrise sagt. Stellt sie seine Grundannahme von der „quantitativen Blendung“ nicht in Frage? Schließlich wird weltweit erstmals, um Menschenleben zu retten, die Wirtschaft in ein künstliches Koma versetzt, ohne dass man weiß, ob der Patient hinterher je wieder aufwacht.

Andererseits haben gerade Zahlen – von den Infektions- und Sterberaten bis zu den schon wieder zur Systemrettung nötigen Fantastilliarden der Notenbanken – wohl noch nie so sehr das Handeln der Entscheidungsträger und das Leben der Einzelnen bestimmt wie heute.

[Jonas Lüscher: Ins Erzählen flüchten Poetikvorlesung. Verlag C.H. Beck, München 2020. 111 Seiten, 16 €.]

Gute Zeiten für Literatur also? In seinen jetzt in Buchform erschienenen Poetikvorlesungen, im Frühjahr 2019 in St. Gallen gehalten, berichtet Lüscher, wie er sich selbst in die Literatur gerettet hat. Ganz ohne Selbststilisierung kommt er dabei leider nicht aus: So arbeitete Lüscher zunächst als Dramaturg fürs Fernsehen, einem von der „quantitativen Blendung“ in Form von Einschaltquoten besonders geknechteten Medium.

Als er seinerzeit in einem Interview mit dem damaligen Sat1-Chef las, beim Fernsehen würden Geschichten nur erzählt, um Werbung zu verkaufen, sei er aufgestanden und habe gekündigt, so Lüscher.

Und als er wenige Jahre später die Folgen der „quantitativen Blendung“ im Rahmen einer philosophischen Doktorarbeit untersuchen wollte, habe er so lange über das Verhältnis von Allgemeinbegriffen und kontingenten Einzelfällen nachgedacht, dass ihm zuletzt die Wörter „wie modrige Pilze“ im Mund zerfallen seien.

Als postmodernem Wiedergänger von Hofmannsthals Lord Chandos sei ihm nur noch die Wahl zwischen Rückzug in eine Privatsprache, ins Schweigen oder Selbstmord geblieben.

Tour de Force durch die Geistesgeschichte mit Umwegen

Zum Glück überließ er Letzteres seinem Romanprotagonisten und „flüchtete“ selbst lieber dorthin, wo kontingenter Einzelfall und Individuum seit jeher beheimatet sind, in die Literatur. Dass er den Philosophen nicht völlig hinter sich gelassen hat, verdeutlicht gerade die erste der drei Vorlesungen.

Wobei man über die Notwendigkeit dieser Tour de Force durch die Geistesgeschichte streiten kann. Den Gegensatz zwischen „Erklären“ und „Beschreiben“ gibt es also schon seit Platon und Aristoteles – so what, möchte man einwenden.

Interessanter wird es, wenn Lüscher im zweiten Teil mithilfe von Gewährsmännern wie Richard Rorty oder Isaiah Berlin den heutigen Stand der Dinge untersucht und sein eigenes Literaturverständnis erläutert.

Statt wie beim Fernsehen marktgängige Geschichten zu produzieren, in denen bestenfalls „Schwerverdauliches“ runtermassiert wird, will Lüscher heute den Leser lieber auf reflexionsförderlichen Abstand halten.

Damit Literatur aber als Scheuerpulver zur Bewusstseinsreinigung dienen kann, möchte er in seinen Texten ein Wechselspiel zwischen „Immersion“ und „Distanz“ erzeugen. Daher die verschachtelten Erzählkonstruktionen in seinen Texten. Sie verhindern ein allzu geschmeidiges Abtauchen in die Fiktion. Oder die komplexen Unsympathen als Hauptfiguren, mit denen eine Identifikation eher schwerfällt.

Ist „Immersion“ wirklich so ein großes Problem?

Nun dürfte Jonas Lüscher mit diesem hehren Anspruch in der ernstzunehmenden deutschsprachigen Gegenwartsliteratur freilich eher die Regel als die Ausnahme darstellen. Dass er sich zudem selbst als politisch engagierten Autor im Sinne Jean Paul Sartres versteht, gut und schön.

Dennoch erscheint seine Abwertung von Autoren, die nicht wie er selbst mühsam um jedes Wort ringen, sondern das Schreiben lustvoll um seiner selbst willen betreiben wie die von ihm als Gegenbeispiel angeführte Friederike Mayröcker, unnötig.

Angesichts so viel selbstwertdienlicher Selbstverortung im Literaturbetrieb, stellt sich eine böse Frage. Wenn „Immersion“, das lustvolle Eintauchen in Erzählwelten, so problematisch ist, wie Lüscher behauptet: Warum gibt es Erzählwerke, die wie George R. R. Martins „Lied von Eis und Feuer“ ganz auf dieses marktgängige Prinzip setzen – und dennoch mehr über uns verraten als mancher „anspruchsvolle“ Roman?

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