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Dichter, Erzähler, Essayist. Der 1962 in Budapest geborene István Kemény.

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Poesie: Mein Ziel heißt Gänsehaut

Das "Schreibheft" widmet dem ungarischen Dichter István Kemény ein buntes Dossier. Die Zeitschriftenkolumne.

Von Gregor Dotzauer

Unter den mehr oder weniger gelehrten Versuchen, das Wesen der Poesie zu ergründen, ist die Auskunft des Ungarn Istvan Kemény von berückender Schlichtheit. „Ich bin ein dummer Dichter“, gesteht er und wird nicht müde zu wiederholen: „Für mich gibt es nur die Praxis des Gedichteschreibens, dessen Kern die Inspiration ist. Und ihr Ziel ist die Gänsehaut.“

Die Gänsehaut! Als würde das, was bei dem einen Schauer der Erregung über den Rücken jagt, bei der anderen nicht Magenkrämpfe auslöst – wenn von derart heftigen Reaktionen überhaupt die Rede sein kann. Die Masse der Leser dürfte eher in blindem Stupor verharren, so unmissverständlich Kemény betont, dass Lyrik ein „Höhepunkt der menschlichen Kultur ist, ein Grundbedürfnis der menschlichen Seele, und wenn jemanden jede Art von Lyrik kaltlässt, dann ist das ein Zeichen eines genetischen Fehlers.“

Was an dieser Beschreibung zutrifft, ist sicher das Körperliche, auf das es ankommt. Ein Umgang mit Schwingungen und Resonanzen, das die Dichtung näher als jede andere Kunst an die Musik rückt: Es darf nur nicht beim rein Subjektiven stehenbleiben.

Gesang der Sirenen

Weil Kemény als Dichter dann aber doch nicht dumm genug ist, nur das eigene Empfinden in den Mittelpunkt zu rücken, bemüht er zusammen mit der Gänsehaut die ältesten Topoi. „Lyrik“, erklärt er, „ist nichts anderes als das Berichten vom Gesang der Sirenen“ – die Kunst, „zwischen der göttlichen Welt und seinem Volk zu vermitteln.“

Es komme nur darauf an, das aristokratische, sich im Elitismus verkriechende Gehabe einer selbsternannten Priesterkaste durch lebensweltliche Verantwortung für die eigene Rolle zu ersetzen.

Diese Spannung von sakraler Aufgabe und ironischer Durchführung, Leichtigkeit und Tiefe, heroischer Geistesarbeit und emotionalem Kitzel, der mit etwas Glück dafür sorgt, dass der Musculus arrector pili, der Haaraufrichtemuskel, seinen Dienst korrekt versieht, macht auch etwas von der Qualität seiner eigenen Lyrik aus. In seiner Heimat gehört der 1961 geborene István Kemény zu den namhaftesten Stimmen seiner Generation.

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Hierzulande hat er sich nie so richtig durchgesetzt. Dabei haben Orsolya Kalász und Monika Rinck schon drei seiner Gedichtbände übertragen – gerade erst im Leipziger Verlag Reinecke & Voß „Ich übergebe das Zeitalter“. Er hat als DAAD-Stipendiat ein Jahr in Berlin verbracht. Auf lyrikline.org, dem Poesieportal, auf dem man den Dichtern aus aller Welt im O-Ton und in Übersetzung zuhören kann, ist er mit 14 Gedichten vertreten, und dieser Zeitung hat er schon einen bewegenden Essay über die Armut in Ungarn geschenkt.

Für das Zurechtrücken solch verrutschter Perspektiven hat sich das „Schreibheft“ bewährt: Neben einem von Timea Tankó zusammengestellten 60-seitigen Dossier widmet die aktuelle Ausgabe (Nr. 94, 164 S., 15 €) einen weiteren Schwerpunkt dem französischen Erzähler Patrick Deville und seinen „romans sans fiction“.

Tankó hat schon als Übersetzerin des 2013 im Wiener Braumüller Verlag erschienenen Romans „Liebe Unbekannte“, einem trotz seiner 900 Seiten fast längenlosen Panorama der spätkommunistischen 70er und 80er Jahre, große Verdienste erworben – und ist dafür mit genau einer überregionalen Rezension belohnt worden.

Wettbewerbssieger mit 17

Ein Interview mit Attila Bartis erzählt von Keménys Dichterwerdung. Sie begann mit einer Bronze-Medaille, die der 17-Jährige als Teilnehmer des bis heute am Tinódi-Sebestyén-Gymnasium stattfindenden Schülerwettwerbs in Sárvár davontrug, und mit der parallelen Entdeckung des Symbolisten Endre Ady.

Sie vollzog sich aber erst wirklich, als er es nach vier Jahren des Jurastudiums in die Geisteswissenschaften schaffte. Guillaume Métayer beschreibt Keménys Position in einem Feld, dessen postmodernes Setting ihn nicht davon abhielt, sich über einen „von der Existenz der Außenwelt überzeugten Dichter“ hinaus als ein „von der Existenz der Geschichte überzeugter Dichter“ zu profilieren.

Bonus am Rande: das Titelgedicht seines jüngsten, bisher nur auf Ungarisch vorliegenden Bandes „Nil“. So „todmüde“, wie der längste Strom der Welt hier dahinfließt, hat er etwas von einem Nebenfluss der Donau.

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