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Das Colosseum aus der Vogelperspektive, um 1760-1770.

© Dietmar Katz

Piranesi-Ausstellung in Berlin: Der Bilderbauer

Er hatte Phantasie und ein Gespür fürs Geschäftliche: Eine Berliner Ausstellung feiert den genialen Grafiker Giovanni Battista Piranesi.

An Händen und Füssen gefesselt balanciert der Gefangene auf einem steinernen Vorsprung. Vor ihm liegt die Löwengrube, aber die Löwen sind aus Stein gemeißelt. Sein Blick schweift über ein Labyrinth von Treppen und Durchgängen. Die Architektur führt ins Nirgendwo. Die berühmten Kerkerszenen, die Carceri, von Giovanni Battista Piranesi wurden interpretiert als drogenbefeuerte Albtraumbilder, als Blicke in die düsteren Abgründe der menschlichen Seele.

Die erfrischende Ausstellung „Das Piranesi-Prinzip“ im Berliner Kulturforum verspricht zu dessen 300. Geburtstag einen neuen Blick auf den Künstler. Sie ist ein Gemeinschaftsprojekt von Kunstbibliothek, Kupferstichkabinett und dem Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität. Studierende, Kuratoren und Forscherinnen stellen nicht nur die Arbeitsmethoden des italienischen Architekten und Kupferstechers dar, sie wagen auch einen Blick auf die Persönlichkeit des Künstlers. Ganz anders als die morbiden Kerkerszenen vermuten lassen, wird Piranesi von Zeitgenossen als munterer Kreativer beschrieben. Wenn er aber gereizt wurde, konnte er sehr wütend werden.

Giovanni Battista Piranesi, am 4. Oktober 1720 in Venedig geboren, kam als Zwanzigjähriger im Gefolge des venezianischen Gesandten nach Rom. Obwohl er Bühnenbildner und Architekt war, realisierte in seinem ganzen Leben nur ein Bauwerk, die Malteserpriorei. Ein Auftrag der venezianischen Familie Rezzonico, aus der auch Papst Clemens XIII. stammte. Statt Gebäude zu errichten, baute Piranesi Bilder.

Das Rom des 18. Jahrhunderts war eine Stadt zwischen den Ruinen des klassischen Altertums. Piranesi entdeckte für sich die Darstellung der antiken Bauwerke als lukratives Geschäftsgebiet, denn die Kultur-Reisenden, die damals auf ihrer Grand Tour nach Rom kamen, nahmen gerne Veduten – naturgetreue Landschaftsbilder – als Andenken mit nach Hause. Piranesi lernte Radierung und Kupferstich bei Giuseppe Vasi, einem Meister dieses Fachs. Aber er verabschiedete sich von der wirklichkeitsgetreuen Darstellung und erweiterte die Szenen mit seiner Vorstellungskraft.

Pionier der Vogelperspektive

Die berühmte Engelsbrücke über den Tiber ergänzte Piranesi kunstvoll Stein für Stein um das Fundament, das keiner kennt, weil es unter Wasser steht. Das Colosseum zeigte er aus der Vogelperspektive, die damals niemand einnehmen konnte, die aber um vieles dramatischer wirkt, als die Ansicht auf Straßenhöhe.

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„Das Piranesi-Prinzip“ nennen die Ausstellungsmacher die Mischung von Dokumentation und Fiktion, das virtuose Zusammenführen verschiedener Inspirationsquellen zu einem Motiv. Piranesi setzte seine Bilder aus vorgefundenen Fragmenten zusammen. Wie ein Archäologe erforschte er das alte Rom, rekonstruierte Stadtpläne und ergänzte sie mit Hilfe der Phantasie. Vom Marsfeld fertigte er einen Faltplan. Weil der ursprüngliche Plan in Stein gemeißelt, aber nur in Bruchstücken erhalten war, stellte er die einzelnen Abschnitte als Scherben dar. Auf diese Weise eröffnen sich immer neue Ebenen, in denen sich Betrachter bis heute verlieren können.

Aus dem unbekümmerten Re-Mix erklärt die Ausstellung auch augenfällig den Sog der Kerkerszenen. Schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatte Fernandino Galli Bibiena fürs Theater die sogenannte Scena per angolo erfunden, die Winkelbühne, die später auch im Film Verwendung fand. Eine Gebäudespitze in der Mitte der Kulisse lenkt den Blick in zwei Richtungen bis tief in den Raum hinein. Für die Carceri verwendete Piranesi diese Bühnenarchitektur und erzielte damit großes Drama. Womöglich entstanden die Vorläufer surrealer Seelenwelten aus Piranesis Gespür für Theatralik.

Jovial, mit schütterer Locke

Ein Porträt von Francesco Polanzani zeigt den Künstler als jovialen, energiegespannten Dreißigjährigen mit entschlossenem Blick unter der schütteren Stirnlocke. Zehn Jahre später war Piranesi angekommen. Er residierte fürstlich in seinem Palazzo Tomati nahe der Spanischen Treppe. Hier richtete er seine eigene Druckwerkstatt ein, mit der von Verlegern unabhängig wurde. Hier betrieb er einen florierenden Handel mit Antiken und soll bis zu 30 Mitarbeiter beschäftigt haben. Ganz unorthodox setzte er auch aus antiken Bruchstücken neue Phantasieplastiken zusammen, als Souvenirs für die Touristen. Bald uferte der Handel mit Steinen so aus, dass Piranesi auch die umliegenden Häuser als Lager akquirierte.

Die Antiken inspirierten ihn zu einer weiteren Geschäftsidee, den „Cammini“. Muster für Kaminsimse, damit die jungen Adeligen als Erinnerung an ihre Bildungsreise durch Italien ihren Kamin auf dem heimischen Herrensitz mit etruskischen, römischen oder griechischen Dekoren verzieren konnten. Für die Entwürfe nutzte Piranesi Papierabfall aus seiner Werkstatt. Zu sehen sind die Blätter von beiden Seiten.

Das fröhliche Sammeln, Aneignen, Kombinieren sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Künstler in seinem ureigenen Medium, der Radierung und dem Kupferstich ein Perfektionist war. Als Pedant war er aber offenbar doppelt empfindlich gegenüber Kritik.

Kreativer Wüterich

Zur Wahrheit über Piranesi gehört auch die ausführliche Würdigung seiner künstlerisch verewigten Wutanfälle. Den irischen Lord Charlemont versuchte er per Damnatio memoriae zu vernichten, die Verdammung durch Vergessen. Der Adlige hatte ihm die Finanzierung des Projektes „Antichità Romane“ zugesagt, die Zahlung aber eingestellt, als das Werk von einem auf vier Bände erweitert wurde. Im Begleitband veröffentlichte Piranesi seine Briefe an den Mäzen und zierte das Buch mit der Darstellung eines Steins, aus dem der Name des Adeligen heraus gemeißelt worden war. Ironie der Geschichte: Durch Piranesi blieb der Lord bis heute in Erinnerung (Kunstbibliothek, Matthäikirchplatz 6, täglich außer Mo 10–18 Uhr, Do bis 20 Uhr, am Wochenende ab 11 Uhr).

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