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Zwischen Literatur und Theorie. Die queere Essayistin Maggie Nelson.

© Sophie Bassouls

Philosophische Essayistik: Unter hohen Himmeln

Von Sex, Kunst, Drogen und Klima: Maggie Nelson denkt über die Idee der Freiheit nach.

Wir stolpern von Krise zu Krise, ein Schrecknis jagt das andere, die Rhetorik der Überbietung läuft auf Hochtouren. Von Zeitenwandel und Weltenwandel ist die Rede, der Ausdruck Paradigmenwechsel taugt nicht mehr. Und zwar nicht erst seit dem 24. Februar. Auch ohne die Grausamkeit des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine nivellieren zu wollen, kann man auf die Idee kommen, dass mit unserer Vorstellung von dem, was die Welt ausmacht, etwas nicht stimmt.

Maggie Nelson hat ihr neuestes Buch zu Beginn der Trump-Ära angefangen und mitten in der Pandemie beendet, während sie Fenster und Türen gegen den Rauch der Waldbrände abdichtete. Sie ist sich bewusst, wie stark die Zeitumstände bei allem mitsprechen, was sie zu formulieren versucht. Und sie reflektiert immer wieder die Situation, in der sie schreibt, erst recht in Kontexten, die sich vom ersten Entwurf bis zum faktischen Abschluss des Buches nach vier Jahren Arbeit gewandelt haben.

[Maggie Nelson: Freiheit. Vier Variationen über Zuwendung und Zwang. Aus dem Englischen von Cornelius Reiber. Hanser Berlin, München 2022. 400 Seiten, 26 €.]

Die 1973 geborene Kalifornierin ist eine eigenwillige Denkerin. Im Grenzbereich zwischen Dichtung, Kritik, Essayistik, Literatur und Theorie mischt sie nicht nur die Genres. Sie bringt auch den subjektiven Faktor ins Spiel. Manchmal kann die Denkerinnenpose auch ärgerlich werden, dann nämlich, wenn nur noch das Denken selbst vorgeführt wird und die Inhalte ins Uferlose driften. Aber meistens ist Maggie Nelsons Gedanken-Surfen ergiebig. Ihr wacher Geist fängt die Dinge im Flug, sie hat eine gute Intuition für die wunden Stellen von Begriffen. Und ihr fällt ein, wie man sie reparieren kann.

„On Freedom. Four Songs of Care and Constraint“ heißt das 2021 erschienene Original, in der gelungenen Übersetzung von Cornelius Reiber „Freiheit. Vier Variationen über Zuwendung und Zwang“. Éine ungewöhnliche Begriffskombination. Mit Hannah Arendts politischem Freiheitsbegriff, den sie anfangs ausprobiert, kommt Nelson nicht zurecht. Arendts Trennung von öffentlicher und privater Sphäre muss mit ihrer eigenen Auffassung kollidieren. Es weht etwas von jener Freiheit in dieses Buch hinein, die man mit Kalifornien, mit Sonne, Meer und hohem Himmel verbindet. Und mit dem großen „Wir“, das Ende der 1960er Jahre begann, mit der Hippiebewegung, dem Pop, mit der sexuellen Befreiung vor der Aids-Krise, der Queer- und der Black-Lives-Matter-Bewegung. Es sind Phänomene, bei denen ein blühender Individualismus mit dem Ideal freiwilliger Kollektivität in Einklang gebracht werden kann.

Dabei ist Nelson überzeugt, dass „unsere gesamte Existenz, einschließlich unserer Freiheiten und Unfreiheiten, in einem ,Wir’ statt in einem ,Ich’ gründet“. Sie untersucht die „Komplexität des Freiheitsdrangs“ in vier Bereichen, „Sex, Kunst, Drogen und Klima“, weil sie dort „das Nebeneinander von Freiheit, Zuwendung und Zwängen als besonders vertrackt“ wahrnimmt.

Hingabe an schwache Theorie

Es geht also nicht um Begriffsarbeit, sondern um die „rigorose Hingabe an schwache Theorie“, die „Unsicherheit“ so wenig scheut wie „Unordnung“. An der Kunst schätzt Nelson gerade, dass sie nicht in binären Oppositionen funktioniert, weder auf der Produktionsseite, die sie gern als ein Verfahren der Zuwendung in der künstlerischen Arbeit selbst sehen will, noch in der Form des Urteilens. Es ist durchaus nicht nebensächlich, zu überlegen, ob die Freiheit der Kunst nicht auch bedeutet, dass man sie weder verwerfen noch bestätigen muss. Den Freiheitsbegriff im Sinne der Autonomie hält sie ohnehin für überholt. Was der Kunstkritiker Grant Kester als „orthopädische Ästhetik“ der Avantgarden bezeichnet, also die Idee, die Rezipient:innen durch Schocks zu neuen Einsichten zu führen, haben die Queer Studies mit der „reparativen Wende“ nur transformiert. Was einmal Schock war, wird „Heilung, Hilfe, Schutz“.

Nelson verhält sich demgegenüber ebenso skeptisch wie etwa in Hinsicht auf die möglichen Folgen der MeToo-Bewegung. Selbstverständlich bestreitet sie deren Berechtigung nicht, gibt aber zu bedenken, dass auch die Klage zur Gewohnheit werden kann. Der Vorwurf, jemand anderer habe einen Fehler oder ein Vergehen begangen, könne mit der Zeit an die Stelle eigener Wünsche treten. „Nein zu sagen, ist schwer, aber es ist auch schwer, Ja zu sagen“, schreibt sie über die Komplexität des Begehrens, das sich nicht in der „liberalen Vertragstheorie“ einer „Consent culture“ unterbringen lasse. Die Überlegung, dass Drogen „unvergleichliche Freiheitsgefühle verschaffen“ können, „während sie mit der Zeit den Spielraum für Praktiken der Freiheit im eigenen Leben verringern“, ist dagegen eher banal.

Das Klima-Thema hat Maggie Nelson nach eigenem Bekunden am meisten Schwierigkeiten bereitet. Vertritt sie sonst freudig die Position der „schwachen Theorie“, die sich bei zahlreichen Theoretiker:innen von Foucault, Deleuze, Guattari und Butler über Fred Moten und Stefano Harney bis Saidiya Hartman oder Donna Haraway bedient, ist der drohende Klimakollaps und die schwindende Biodiversität angstbesetzt. Sie habe während der Arbeit daran jede Menge Symptome entwickelt, berichtet sie, und auch, wie schwer es sei, „Angst und Paranoia“ zu trotzen. Dort lauert die eigentliche Herausforderung des Verhältnisses von Freiheit und Zuwendung bzw. Sorge. Und dort wird deutlich, dass bei allem Vorsatz, nur ja keine „essenzialistische“ weibliche Position zu vertreten, die Tatsache, dass sie Mutter eines Sohnes ist, ihr Denken bestimmt.

In „Die Argonauten“ hat sie von der Gründung ihrer queeren Familie erzählt, auch davon, wie ihr/e Partner:in Harry Dodge Testosteron nahm, während sie das per In-Vitro-Fertilisation gezeugte Kind austrug. Wenn sie nun die Glücksgefühle schildert, wenn der damals Dreijährige stolz auf einer Lok posiert, dann findet sie nicht nur den Kipppunkt zwischen Glück und Angst, sondern auch zwischen den kulturellen Praktiken, denen wir folgen, und denen, die wir uns angewöhnen müssen.

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Was als Liebesobjekt des Sohnes, der sich längst nicht mehr für Lokomotiven interessiert, Gnade findet, verkehrt sich ins Gegenteil, wenn sie die Dampfmaschine als diejenige Erfindung James Watts beschreibt, mit der das Kohlenstoffzeitalter begann. Dass nicht nur Schreiben, sondern auch Leben eine Idee der Zukunft braucht, verkapselt sie im Bild der „dichten Zeit“, das sie von den feministischen Kulturtheoretikerinnen Astrida Neimanis und Rachel Loewen Walker übernimmt. Es ist eine Form der „gefalteten oder generationenübergreifenden“ Zeit, die Fürsorge für zukünftige Generationen einschließt. Mit der italienischen Philosophin Rosi Braidotti spricht sie vom „nomadischen Erinnern“ im Futur II, das „eine seltsame kleine Nische in der Zeit schafft“.

Mitten in der Pandemie, deren Ende vor einem Jahr vielleicht noch etwas weniger absehbar war als heute, erinnert Maggie Nelson daran, dass das Gefühl, in einer schrecklichen Zeit zu leben, immer wieder aufkommt. Als sie einige Wochen nach den Anschlägen vom 11. September unweit des zerstörten World Trade Center ihre Dissertation verteidigte, war „die physische Nähe zu Tausenden kürzlich ermordeten Menschen“ kaum zu ertragen. Der Satz von Ralph Waldo Emerson, den sie in ihrer Disputation verteidigen musste, klang in seiner ganzen Abgründigkeit ziemlich provokant: „Diese Zeit ist, wie alle Zeiten, eine sehr gute, wenn wir nur etwas mit ihr anzufangen wissen.“

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