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Kompromissbereit. Crow-Häuptling Plenty Coups (1848 - 1932) im Jahr 1925 nach einem Besuch bei Warren G. Harding, dem 29. Präsidenten der USA.

© imago/ZUMA Press

Philosophische Anthropologie: Die Tugend der Meise

Der amerikanische Philosoph Jonathan Lear sucht nach nach einer Ethik im Angesicht kultureller Zerstörung und findet Aufschluss beim Stamm der Crow.

Von Gregor Dotzauer

Welten zerbrechen manchmal im Handumdrehen. 30 Jahre, und die indigenen Völker Amerikas erkannten ihr Land nicht wieder. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts grasten zehn bis 15 Millionen Bisons auf den Great Plains. Gegen 1880 waren sie, vom weißen Mann für die Lederproduktion wie im Blutrausch gejagt und die Schädelskelette zu Triumphbergen aufgetürmt, auf knappe tausend dezimiert.

Die jahrhundertelange Lebensgrundlage der nomadischen Stämme war dahin, ihnen blieb nichts anderes übrig, als ihr kriegerisches Dasein aufzugeben und in Reservate zu ziehen. Während die Sioux unter Sitting Bull sich mit Händen und Füßen wehrten, erblickte Plenty Coups, der Häuptling der Crow, in der Kooperation mit der Staatsmacht eine Chance, wenigstens einen Teil der eigenen Tradition zu retten.

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Doch auch für ihn war das Ende der Geschichte gekommen: „Als die Büffelherden verschwanden, fielen die Herzen meiner Leute zu Boden und sie konnten sie nicht mehr aufheben“, erzählte er 1930 dem Trapper Frank Bird Linderman, der sich als Freund und Ethnograf der Native Americans verstand: „Danach ist nichts mehr geschehen.“

Lautloses Weltenende

Nur sieben Jahre, und der nach London ausgewanderte Amerikaner T.S. Eliot erkannte Europa nicht wieder. So sang- und klanglos, wie er 1925 in seinem Gedicht „The Hollow Men“ die Welt untergehen sah, war sie in den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs allerdings keineswegs zu Bruch gegangen.

Das dreimal wiederholte „This is how the world ends“, das in die berühmte Zeile „not with a bang but a whimper“ mündet, bezieht sich auf das geistige Vakuum der Zwischenkriegszeit. Der große Knall ist verhallt, in der drückenden Stille grollen allerdings noch die Donner von Verdun.

Wovon müsste man heute sprechen? Vom unaufhaltsamen, indigene Völker betreffenden Sprachensterben, das über kurz oder lang die Hälfte der derzeit rund 6500 dokumentierten Sprachen erfassen wird und von der Pandemie beschleunigt wird? Von der Bedrohung des westlichen Liberalismus durch autokratische Herausforderer, die Wirtschaft und Politik effektiver zu gestalten versprechen?

Der Philosoph Jonathan Lear, Teil des multidisziplinären Committee on Social Thought in Chicago, hält sich im Hinblick auf die Aktualität seiner Studie „Radikale Hoffnung“ bedeckt, aber er macht kein Hehl aus dem universalen Anspruch seiner Überlegungen zum Standhalten der Crow in Zeiten, die ihnen jedes gewohnte Selbstverständnis streitig machten.

Es gibt immer ein Danach

Lear versucht sich an einer „Ethik im Angesicht kultureller Zerstörung“, die aus den Erfahrungen von Plenty Coups eine Tugend des Mutes ableitet, die jedem Weltenende noch ein „Danach“ abgewinnt. Die „radikale Hoffnung“, die diesem Mut entspringt, will er nicht als trotzigen Optimismus verstanden wissen, sondern als hart erkämpften Umbau seiner selbst nach einem völligen „Begriffsverlust“.

Denn „wenn wir uns das Selbst so vorstellen, dass es zum Teil durch seine grundlegendsten Verpflichtungen konstituiert ist, dann zerrüttet man mit dem Abwerfen jener Verpflichtungen auch seinen grundlegendsten Sinn für das eigene Dasein.“

In diesem Sinn beißt er sich an Plenty Coups’ Bekenntnis „Danach ist nichts mehr geschehen“ immer wieder die Zähne aus – als Umkehrpunkt eines Verhaltens, das nicht den Fehler begeht, wie Pretty Shield, die Medizinfrau der Crow, einfach an Gewohnheiten festzuhalten.

„Ich versuche ein Leben zu führen, das ich nicht verstehe“, erklärte sie im Reservat gegenüber Linderman. Da setzt Lear an und zeigt, dass selbst scheinbar unbedeutende Alltagstätigkeiten wie das Kochen nur im Kontext eines Jäger- und Kriegerlebens einen Sinn ergeben.

Empowerment für Entwurzelte

„Radikale Hoffnung“ ist ein Stück philosophischer Anthropologie, gegen das sich viele Einwände vorbringen lassen, die dem Ganzen aber nichts von seiner inspirierenden Kraft nehmen. So versucht Lear etwa ausdrücklich, sich von allen psychologischen Deutungen fernzuhalten, entkommt dem Empowerment für entwurzelte Kreaturen aller Art aber nur unzureichend. Auch wo die Grenze zwischen dem hilflosen Festsitzen des „Ewiggestrigen“ in der Vergangenheit, normalen Lernprozessen und einer neuro-linguistischen Umprogrammierung mit dem Zeug zur Gehirnwäsche verläuft, bleibt ungeklärt.

Jonathan Lears ohne gedankliche Konzessionen ausgezeichnet geschriebenes Buch zeugt von einer gründlich erworbenen Kenntnis und Bewunderung der Crow-Kultur. So enthält es eine kleine Kulturgeschichte des Coup-Sticks, eines Stabes, der nicht nur den Crow dazu diente, ihr Territorium zu markieren und den Feind zu berühren, bevor er getötet wurde. Zugleich scheut es nicht davor zurück, die Sinnpotenziale indigener Welten mit westlichen Mitteln aufzuschließen.

Vor allem Sören Kierkegaards Subjektivitätsverständnis, der Aristoteles der „Nikomachischen Ethik“ und der Sigmund Freud der „Traumdeutung“ helfen Lear, Plenty Coups’ schon in jüngsten Jahren erlebte Visionen zu interpretieren. Sie lehrten den späteren Häuptling unter anderem die „Tugend der Meise“, die Kunst, durch gutes Zuhören auch bei körperlicher Unterlegenheit geistige Überlegenheit zu bewahren.

Die – heute zunehmend christlich eingehegte – Spiritualität der Crow und die analytischen Kategorien der westlichen Philosophie zusammenzuführen, ist ein reizvolles Unternehmen, dem nur politisch Überkorrekte den Vorwurf der kulturellen Aneignung machen können. Man muss dabei allerdings wohl erklären, in welchem Maß die Begriffswelten überhaupt zueinander passen. Darum drückt sich Lear ebenso wie um eine offensive Kontrastierung.

Arnold Gehlens Posthistoire

Denn natürlich hat auch die westliche Philosophie zahlreiche Varianten vom Ende der Geschichte hervorgebracht – am eindrücklichsten vielleicht der Anthropologe Arnold Gehlen mit seinem Antoine Cournot abgelauschten Begriff des Posthistoire. Gemeint war damit nicht ein Ende geschichtlicher Ereignisse, sondern die Ausschöpfung aller fundamentalen Sinnvarianten, die quer durch die Kulturen im Lauf der Jahrtausende entstanden sind.

Der Grundwiderspruch des Buches besteht indes darin, dass es sich einerseits als bloßes Gedankenexperiment versteht, andererseits mit einer Farbigkeit in das Leben der Crow eintaucht, die das genaue Gegenteil suggeriert. Lear will angeblich nicht sagen, „dass den Crow genau das zugestoßen ist“. Und er beansprucht nicht, „dass Plenty Coups genau das mit seiner Äußerung gemeint hat“. Jonathan Lears Folgerungen, taugen letztlich aber nur, wenn seine Erzählung mehr oder weniger zutrifft und die Anpassung der Crow an die neuen Lebensumstände im Reservat klüger war als die anfängliche Verweigerung der Sioux.

Dabei geht es nicht zuletzt um die Frage, was Lear persönlich an Plenty Coups’ Worten so traf, dass sie ihm nicht mehr aus dem Kopf gingen. Im eigens für die deutsche Ausgabe geschriebenen Vorwort – das Original erschien 2006 bei der Harvard University Press noch in den Nachwehen von 9/11 – deutet er das immerhin an.

Erinnerung ans Ostjudentum

Lear berichtet, wie ihn nach einem Vortrag am Little Big Horn College im Reservat der Crow ein Stammesältester fragte, was denn „seine Leute“ seien. Und ihm, der nie in solchen Zugehörigkeiten gedacht hatte, fiel nichts Besseres ein, als zu sagen, dass er Jude sei. Mitte der 1880er Jahre, zur selben Zeit, als die Apsáalooke, wie die Crow sich selber nennen, in ihr Reservat zogen, war seine Familie vor den Pogromen in der Ukraine geflohen.

Viele indigene Völker, so Lear, seien vom Beharrungsvermögen einer Kultur fasziniert, die über Tausende von Jahren hinweg neue Traditionen ausgebildet habe. Doch auch die nachvollziehbaren Parallelen zwischen den Crow und dem Ostjudentum reichen nicht aus, den allgemeinen Fokus seiner Untersuchung zu begründen. Lear will hinaus auf das Gefühl einer zivilisatorischen Verletzlichkeit, das sich „nicht ganz benennen“ lässt.

Sie mag von Terrorangriffen und Naturkatastrophen gesteigert werden, schlägt uns aber nicht die Begriffe aus der Hand. Vielleicht liegt diese „ontologische Verletzlichkeit“ auf eine Weise außerhalb unseres Erwartungshorizonts, wie sie schon den Crow zum Verhängnis wurde. Vielleicht ist sie uns aber auch bereits so nahe gerückt, dass wir sie mit unseren verbrauchten humanistischen Begriffen nur unzureichend erkennen. Auch um dies herauszufinden, bedarf es des Muts zu einer radikalen Hoffnung.

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