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Freuden einer abendlichen Begegnung. Ein Blatt des für seine erotischen Darstellungen berühmten japanischen Malers Keisai Eisen aus der späten Edo-Zeit.

© Corbis via Getty Images

Philosophie und Sexualität: Die Ordnung des Ungeordneten

Bettina Stangneth versucht, die Gesetze unserer „Sexkultur“ zu ergründen.

Mit seinem „Sex ABC“ hat Volkmar Sigusch, der Doyen der deutschen Sexualwissenschaft, vor vier Jahren versucht, Sexualität in ein Begriffsbrevier zu fassen. Hatte die Generation von 1968 noch „Sex-Atlanten“ unters Volk gebracht, in denen der Geschlechtskörper als unerforschte, aber begehbare Landschaft erschien, überwiegen inzwischen die Versuche, die sexuelle Erscheinungsvielfalt in regulierungswütigen Katastern zu bändigen.

Die Sexualwissenschaft, in ihren Anfängen einmal von meist homosexuellen Außenseitern repräsentiert, beschäftigt sich inzwischen, soweit sie überhaupt noch an den Universitäten zu finden ist, vor allem mit kassentechnisch abrechenbaren individuellen „Störungen“ und bedrohlichem Verhalten. Die Philosophie hingegen hat sich von jeher mit dem Sex schwergetan.

Wenn nun ausgerechnet eine Frau in den Ring steigt, ist das eine doppelte Provokation. Die 1966 geborene „unabhängige Philosophin“ Bettina Stangneth, Kant-Expertin und mit ihrem Buch „Eichmann vor Jerusalem“ bekannt geworden, ist sich dieser Aussichtslosigkeit bewusst, wenn sie ihr neues Buch „Sexkultur“ mit dem Satz beginnt: „Dieses Buch ist sinnlos.“

[Bettina Stangneth: Sexkultur. Mit einem Beiwort von Willi Winkler. Rowohlt Verlag, Hamburg 2020. 282 Seiten, 22 €.]

Sinnlos, weil es sich nicht laut genug in den geräuschvollen Diskurs über Sex einmischt, weil sie als Philosophin dort keinen Platz hat und weil sie keine Streitschrift zugunsten dieser oder jener Fraktion formuliert hat. Dafür hat sie ein Augengeschenk im Gepäck, Zeugnisse einer uns fremden, im asiatischen Raum entstandenen Sexualkultur, die unsere eigene schon bildlich zurechtrücken und jedes Kapitel „sprechend“ einleiten.

Sex als Natur oder Kultur

Dabei ist das Sprechen über Sexualität, also ihre Rationalisierung, selbst schon Grund des Problems. Denn wie über die erklärtermaßen „natürlichste Sache der Welt“ reden, wenn Natur als „das Andere“ aufgefasst wird, um davon abgrenzend Kultur zu behaupten?

Im Unterschied zu anderen Gegenständen, die sich wissenschaftlich klassifizieren lassen, ist die Erfahrung von Sexualität etwas Eigenes. Der Mensch hat nicht nur einen Körper, als Beobachter kann er sich davon auch nicht distanzieren. Stangneths Gewährsmann ist dabei nicht Helmuth Plessner, auf den dies zurückgeht, sondern der französische Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty: „Unser Leib“, wird er zitiert, „ist ein System von Bewegungs- und Wahrnehmungsvermögen“ und genau deshalb „kein Gegenstand für ein ‚Ich denke‘: er ist ein Gegenstand erlebt-gelebter Bedeutungen.“ Diese doppelte Seinsweise des Menschen ist der zentrale Ausgangspunkt für Stangneths Überlegungen.

„Natürlichkeit ist das, was wir für natürlich halten“, erklärt sie. Das gilt insbesondere für Frauen, die im männlich-dominanten Blick per se als „Natur“ gelten. Fatale Folgen hat das aber auch für Menschen, deren Sexualverhalten von der Norm abweicht. Zu behaupten, dies sei „von Natur“ aus angelegt, entlastet sie zwar von Schuld, macht sie aber auch zu Opfern und verschließt allen Anderen jeglichen Experimentierraum.

Autoerotische Fantasien

Da der Mensch, um in der Welt Halt zu finden, befähigt sein muss, zu unterscheiden, was ist und was nicht ist, bleibt er auf in Begriffen verankerte Eindeutigkeiten angewiesen. Sexualität mit ihren Vielsinnigkeiten, Grenzüberschreitungen und Abgründen, egal ob es sich um autoerotische Fantasien oder die dialogische Erfahrung mit dem Anderen handelt, treibt das Individuum an die Abbruchkanten der Vernunft und löst Ängste aus, die von unserer abendländischen Scham- und Schuldkultur orchestriert werden. Anders in China, wo man Bräuten kleine Erdnüsse aus Porzellan mitgab, in denen kleine Figuren in die Freuden des Sex einführten – sexualpädagogische Unterstützung für die jungen Ehemänner.

Der abendländische Geist dagegen verbarrikadierte sich in Abwehr. Dass Sex gesund ist und entspannend, weiß jede und jeder. Insofern dient er der eigenen Leistungserhaltung respektive dem emotionalen Druckabbau. Einen kritischen Blick wirft die Philosophin aber auch auf die Unternehmen der Sexualreformer und ihrer Nachfolger, Sexualität zu einem energetischen Kraftfeld für die Revolution zu machen und sie damit wieder in Dienst zu nehmen.

Vielleicht, mutmaßt die Autorin, daher deren ungebrochene Furcht vor der Onanie: Der Mensch könnte sich ja möglicherweise selbst genug sein.

Sich „das sexuelle Interesse wie ein kleines ungestümes Haustier vorzustellen, das gelegentlich zu Spielen herauswill, und, sobald es vor die Tür darf, dazu animiert, mit ihm die Zeit zu vergessen“, von dieser unbeschwerten (und manchmal sarkastischen) Art sind die Bilder, mithilfe derer Stangneth ihr Terrain erkundet. Viel Wert legt sie auf die Rehabilitation autoerotischer Erfahrung, den Dialog mit sich selbst.

Der Körper erinnert sich

Sie weiß aber auch, dass das, was sich lustvoll oder gewaltsam in die Körper einschreibt, nicht vergessen wird und als Erinnerung wieder aufscheint. Dass sie missverstanden werden könnte, ist ihr bewusst: „Es gibt den ‚unschuldigen‘ Körper als Gegenstand der sexuellen Erfahrung nicht, ohne sich auch des Verbrechens schuldig zu machen, sich an der Unschuld zu vergreifen.“

Im gelungenen sexuellen Dialog mit dem Anderen jedweden Geschlechts gehe es aber auch um mehr als die eigene Ergänzung, die Wiederherstellung des antiken Kugelmenschen. Denn es ist ja gerade der Andere, der „das Ganze“, was einem selbst verwehrt ist, repräsentiert – erfahrbarer Leib, zu schauender Körper und Resonanzraum. Es ist nicht die Schaulust jener Richter, die in Praxiteles’ Gemälde die nackte Phryne zum Objekt machen und deren Lächerlichkeit Willi Winkler in einem erhellenden Beiwort entlarvt.

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Angesichts der Realität gewaltsamer sexueller Übergriffe, kommerzialisierten Sexkonsums und gezähmter Ausflüge in die Nachbarreviere mag man Stangneths Furor für romantisch halten. Romeo und Julia, räumt sie ein, sind in den Niederungen des Gesellschaftlichen die Ausnahme, und ihr Scheitern wird von resignierter Genugtuung begleitet.

An einem lässt ihr sprachgewandtes und inspirierendes Buch, auch wenn nicht jede These originell ist, keinen Zweifel: Wir Menschen sind nicht gemacht für Diversität und müssen Neugier und Vielfalt mühsam kultivieren. Wir werden immer den Wunsch hegen, das zu ordnen, was überhaupt den Wunsch nach Ordnung aufkommen lässt: die Sexualität, die viel mehr als nur „Beiwerk“ menschlicher Entfaltung ist.

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