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Zentrale Akteure der Kritischen Theorie: Max Horkheimer und Theodor W. Adorno.

© Jeremy J. Shapiro/CC BY-SA 3.0

Philosophie als kollektive Arbeit: Das Ende der großen Zauberer

Die Geschichte der Philosophie wird meist als Abfolge genialer Einzelpersonen wahrgenommen. Spätestens für die 1920er Jahre ist diese Sichtweise überholt.

Die Autoren sind Teil des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts „Nachmetaphysisches Philosophieren“ an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, das seit Januar 2021 läuft. Weitere Infos: nachmetaphysisches-philosophieren.uni-jena.de

Die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts gelten nicht erst seit Wolfram Eilenbergers Bestseller „Zeit der Zauberer“ (2018) als letzte große Epoche der Philosophie. Die meisten heutzutage diskutierten philosophischen Ansätze haben hier ihren Ursprung. Eilenberger bezieht den Titel auf vier prominente Figuren: den Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein, den Literaturwissenschaftler und Essayisten Walter Benjamin, den Zeichen- und Kulturtheoretiker Ernst Cassirer und den „Seinsphilosophen“ Martin Heidegger. Die Werke der genannten Autoren beschäftigen bis heute Generationen von Geisteswissenschaftlern.

In der Fokussierung auf einzelne erratische Persönlichkeiten geht jedoch verloren, dass philosophische Argumente sich immer auch in intellektuellen Netzwerken und Kooperationen entwickelten. Das zeigt der Blick auf die späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre. In dieser Zeit entstanden im deutschsprachigen Raum drei philosophische Ansätze von nachhaltigem Einfluss: Die Kritische Theorie („Frankfurter Schule“), der Logische Empirismus („Wiener Kreis“, „Berliner Gruppe“) und die Philosophische Anthropologie („Kölner Konstellation“). Nicht Einzelpersonen entwickelten sie, sondern Forschungskollektive in interdisziplinären Arbeitszusammenhängen.

Obwohl alle drei als konkurrierende Ansätze mit konträren Grundauffassungen gelten, verfügen sie über eine zentrale Gemeinsamkeit: Sie brachten ein Arbeits- und Methodenverständnis in die philosophische Forschungspraxis ein, das nah an die modernen Wissenschaften heranreichte. Avancierte wissenschaftliche Ansätze jener Zeit – Psychoanalyse, behavioristische Psychologie, Evolutions- und Verhaltensbiologie, Ökonomie, Soziologie, Quantenphysik und Relativitätstheorie – wurden nicht als konkurrierende Welterklärungen betrachtet, sondern in die philosophische Reflexion einbezogen.

Kooperation und konkrete Feldarbeit

Ebenso wie diese Wissenschaften entwickelten die drei Strömungen ihre Theorien nicht im einsamen Räsonnement, sondern in Form von arbeitsteilig organisierter Kooperation und konkreter Feldarbeit. Die Art des Zusammenschlusses war jedoch unterschiedlich ausgeprägt: sie reichte von einer festen institutionellen Struktur bis hin zu einem losen, nur sporadisch interagierenden Netzwerk.

Das von Max Horkheimer geleitete Institut für Sozialforschung vereinigte Wissenschaftler aus den Bereichen Philosophie, Soziologie, Psychologie, Ökonomie und Rechtswissenschaft, aber auch Musik- und Literaturwissenschaft. In enger Kooperation unterschiedlicher Protagonisten wie Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Leo Löwenthal und Erich Fromm entstand der charakteristische Denkstil der Kritischen Theorie, der sich etwa im ersten großen Sammelband des Instituts „Studien über Autorität und Familie“ (1936) niederschlug und soziologische wie psychologische Studien mit philosophischer Reflexion verband.

Die Kritische Theorie war vom Bewusstsein getragen, dass Philosophie den Stand der modernen Einzelwissenschaften nicht ignorieren kann. Vielmehr müsse sie, wie Horkheimer in seiner Antrittsvorlesung als Institutsdirektor 1931 forderte, die „aufs Große zielenden philosophischen Fragen an Hand der feinsten wissenschaftlichen Methoden“ verfolgen.

Allumfassende Aufklärung durch Wissenschaft

Noch konsequenter an der Wissenschaft ihrer Zeit orientiert war der Logische Empirismus der Berliner Gruppe und des Wiener Kreises. Äußerlich zeigte sich das in der breiten interdisziplinären Orientierung: Während erstere vor allem aus Philosophen, Physikern und Mathematikern bestand, waren in letzterem zudem Nationalökonomen und Soziologen vertreten. Berliner Gruppe und Wiener Kreis teilten dabei das Vorhaben einer allumfassenden Aufklärung durch Wissenschaft. Mit den geschärften Mitteln der zeitgenössischen Logik und der jüngsten empirischen Forschung sollte die alte Metaphysik, die seit Jahrtausenden keinen wirklichen Fortschritt erzielt habe, vom Sockel gerissen werden.

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Anstelle der in der Philosophiegeschichte vor allem anzutreffenden Abfolge verschiedener Denkgebäude wollten die Philosophen um Hans Reichenbach, Otto Neurath und Rudolf Carnap einen Fortschritt wie in den Einzelwissenschaften ermöglichen – unter anderem mit klaren Kriterien, was als sinnvoller philosophischer Satz zu gelten habe. Es erwuchs die Forderung nach einer interdisziplinären „Einheitswissenschaft“, in der die Philosophie nicht mehr über, sondern neben allen anderen Disziplinen steht.

Weniger eindeutig ist die Lage bei der Philosophischen Anthropologie. Die Grundzüge einer philosophischen „Lehre vom Wesen des Menschen“ hatten die Hauptvertreter Max Scheler und Helmuth Plessner während der zwanziger Jahre im intellektuellen Umfeld der Universität Köln entwickelt – ohne groß miteinander zu tun zu haben. Scheler war dort als Professor und Plessner als wissenschaftlicher Mitarbeiter, später als Privatdozent tätig. Um der Vielgestaltigkeit der menschlichen Wirklichkeit, des menschlichen Wirkens und Handelns gerecht zu werden, versuchten beide ihre philosophischen Arbeiten stets auf der Höhe des aktuellen Einzelwissens zu halten.

Die Verwissenschaftlichung der Philosophie

Das umfasste Erkenntnisse aus Biologie, Zoologie und Evolutionsforschung, aber auch Psychologie und Soziologie. Scheler und Plessner waren nicht nur philosophische Einzelarbeiter, sondern Konkurrenten. Dennoch beeinflussten sie sich in ihren Forschungen und bewegten sich zudem in einem eng gestrickten Netz aus empirisch arbeitenden Lebenswissenschaftlern. So pflegten beide etwa einen inhaltlichen Austausch mit dem niederländischen Verhaltensbiologen Frederic J.J. Buytendijk.

Die Verwissenschaftlichung der Philosophie, die sich in den Programmen von Kritischer Theorie, Logischem Empirismus und Philosophischer Anthropologie verwirklicht findet, ist sicher auch eine Folge dessen, was Odo Marquard polemisch als „Inkompetenzkompensationskompetenz“ der Philosophie beschrieben hat. Nicht nur gerieten die Erkenntnisansprüche philosophischer Wissenszweige zu Beginn des letzten Jahrhunderts durch den Ausbau neu entstandener Fächer wie Psychologie und Soziologie unter Druck, mit denen sie in Teilen um die gleichen Gegenstände konkurrierte. Vielmehr wurde auch ihr angestammter Platz als eine wie auch immer verstandene Grundlagendisziplin, die über allem Wissen schwebt, strittiger. Das machte eine Integration der wissenschaftlichen Forschungen erforderlich.

Nur wenige Jahre nach der Begründung der drei Ansätze sorgte der Nationalsozialismus für eine Zäsur. Nahezu alle Vertreter der Kritischen Theorie, des Logischen Empirismus und der Philosophischen Anthropologie waren von Verfolgung betroffen und mussten den deutschsprachigen Raum verlassen. Die Kritische Theorie und der Logische Empirismus fanden in den USA Zuflucht, wobei ihre Entwicklungsverläufe unterschiedlicher nicht sein könnten: Horkheimers Institut kooperierte nur sporadisch mit amerikanischen Universitäten, war finanziell auf eigene Mittel und externe Förderung angewiesen und kehrte schon kurz nach Kriegsende nach Deutschland zurück.

Gegenseitig beeinflussende denkerische Arbeit

Den Philosophen des ehemaligen Wiener und Berliner Kreises gelang es langfristig und erfolgreich in den Vereinigten Staaten Fuß zu fassen. Die mittlerweile weltweite Dominanz der Analytischen Philosophie zeugt noch heute davon. Ein anderes Schicksal ereilte die Philosophische Anthropologie: Während Scheler schon 1928 verstarb, emigrierte Plessner in die Niederlande. Ungeachtet der Arbeiten beider Forscher entwickelte sich die Philosophische Anthropologie im nationalsozialistischen Deutschland weiter, wurde aber bereits in der frühen Phase der Bundesrepublik beinahe wieder vergessen.

Erst in den letzten 20 Jahren lässt sich wieder ein vermehrtes Interesse an der philosophischen Frage nach dem Menschen und an den Werken der beiden Begründer der Philosophischen Anthropologie verzeichnen. Das mag auch mit der Virulenz von Themen wie Bioengineering und künstlicher Intelligenz zusammenhängen.

Historisch nahmen die drei Strömungen voneinander kaum Kenntnis. Es bleibt also die Aufgabe einer nachträglichen Rekonstruktion, Überschneidungen festzustellen. Spätestens mit Kritischer Theorie, Philosophischer Anthropologie und Logischem Empirismus ist Philosophie nicht länger nur eine Sache großer und genialer Individuen, sondern auch vernetzter und sich gegenseitig beeinflussender denkerischer Arbeit – und so wurde in der „Zeit der Zauberer“ zugleich das Ende der großen Zauberer eingeläutet.

Max Beck, Nicholas Coomann, Christoph Demmerling

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