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Philipp Ruch vom Zentrum für politische Schönheit.

© imago images/Thomas Müller

Philipp Ruch zur Lage in Afghanistan: „Ich würde am liebsten nach Kabul kommen“

Das Aktionsbündnis „Zentrum für politische Schönheit“ finanzierte ein Safe House in Afghanistan. Ein Gespräch mit Gründer Philipp Ruch über Ohnmacht und Solidarität.

Herr Ruch, vor vier Wochen haben Sie in einer Pressemitteilung erklärt, dass Ihre Gruppe „Zentrum für politische Schönheit“ die erste Monatsmiete für ein Safe House in Kabul übernommen hat – um ehemalige zivile Mitarbeiter:innen der Bundeswehr und der deutschen Botschaft zu unterstützen…
Zu dem Zeitpunkt war bereits in aller Munde, dass der Bundeswehr von afghanischen Zivilist:innen geholfen wurde – sei es, um Frauenrechte zu stärken, oder um demokratische Strukturen aufzubauen. Es war klar, dass die Bundesregierung nicht vorhat, diese Menschen zu schützen. Die Botschaften und Konsulate, an die sie sich für ein Visum hätten wenden können, wurden geschlossen. Deutschland hat 2400 Visa an die Internationale Organisation für Migration (IOM) gegeben, eine UN-Flüchtlingsorganisation, deren Büro in Kabul aber noch nicht eröffnet war. Man hat versucht, sich diese Menschen mit Bürokratie vom Hals zu schaffen. Daraufhin wurde dieses Safe House organisiert, das innerhalb von drei Tagen voll war. Fast hundert Menschen sind dort untergekommen, Helfer:innen und ihre Familien.

Lassen sich Safe Houses jetzt noch aufrecht erhalten?
Nein, nicht mehr seit die Taliban durch die Außenbezirke Kabuls zu streifen begonnen haben. Die Lage hat sich verkehrt. Die Safe Houses sind jetzt Todesfallen, die Menschen mussten fliehen. Diese Häuser waren tatsächlich sehr gut geschützt, sie hatten Bunkeranlagen, die Planung hatten Soldaten übernommen – allen voran der unglaubliche Marcus Grotian, der bereits seit Jahren das „Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte“ betreibt, das zivile Helfer:innen unterstützt und Verbindung zu ihnen hält. Wir haben ein Safe House mit einer hohen fünfstelligen Monatsmiete finanziert, die wir natürlich von der Bundesregierung zurückerhalten wollten. Aber Schutz ist nicht mehr zu gewährleisten, wenn die Taliban jetzt von Tür zu Tür ziehen.

Wissen Sie, wie es aktuell um die Schutzsuchenden steht? Die Losung der Stunde lautet ja: Rette sich, wer kann…
Die Menschen haben sämtliche ihrer Unterlagen sowie Hinweise auf ihre Identität verbrannt und sind in alle Himmelsrichtungen davon. Der Flughafen von Kabul ist in Chaos versunken. Ich glaube nicht, dass wir noch eine Evakuierung durch die Bundeswehr erleben werden. Die Flieger mit den Fallschirmjägern, die Deutschland geschickt hat, sind erstmal in Baku gelandet, nicht in Kabul. Warum wurde diese Aktion nicht gestern gestartet, als die Meldung über den Vormarsch der Taliban kam?

Hätten Sie damit gerechnet, dass die Lage so schnell eskalieren würde?
Wie die meisten hätte ich auch gedacht, dass noch ein paar Monate Zeit bleibt, bis Kabul fällt. Aber selbst wir als Künstler:innen-Organisation haben schon vor vier Wochen erkannt, dass man jetzt dringend handeln und diese Menschen evakuieren muss. Zu dem Zeitpunkt wäre das noch möglich gewesen. Die Bundesregierung hat sich lieber auf ein Spiel mit dem Feuer eingelassen, insbesondere unser Außenminister. Heiko Maas saß vergangene Woche mit der BILD-Zeitung im Grill Royal und hat später ein paar dürre Statements zu Afghanistan zu Protokoll gegeben. Aber niemand hat irgendetwas unternommen.

Talibankämpfer in Kabul.
Talibankämpfer in Kabul.

© AFP

Was genau war die Absicht des ZPS? Eine Monatsmiete für ein Safe House zu zahlen ist ja auch eher ein symbolischer Akt.
Wir wollten Druck auf die Politik aufbauen, aber auch zeigen, dass die Zivilgesellschaft mehr tut als die Bundesregierung. Warum müssen wir deren Scherbenhaufen aufräumen? Wenn doch die Tatsache, dass Verrat an den Menschen begangen wird, die unseren Soldat:innen geholfen haben, komplett gegen das Gewissen der CDU gehen dürfte? Jetzt klammern sich am Flughafen von Kabul die Menschen an den Rädern startender Flugzeuge fest. Und stürzen ab.

Was erzählen diese Bilder aus der Sicht des Aktionskünstlers?
Die Bilder erzählen mir weniger als die Reaktionen darauf. Ich habe in einem Statement auf Facebook geschrieben, dass Heiko Maas vom öffentlichen Mitgefühl für Afghanistan überraschter sein dürfte, als vom Einmarsch der Taliban. Das ist eine neue Situation. Diese Form von Empathie habe ich lange nicht erlebt, das lässt hoffen. Die Mächtigen haben gedacht, sie könnten ein Land wie Afghanistan einfach so aufgeben, ohne dass die Leute hierzulande Notiz davon nehmen. Jetzt überschlagen sich die Social-Media-Kanäle in einer nie dagewesenen Weise. Es ist die Detonation des Mitgefühls.

Derweil wird allerorten der Abgesang auf den Westen angestimmt. Zu Recht?
Überhaupt nicht. Ich halte nichts von diesem Reflex, die Entwicklung der vergangenen 20 Jahre heranzuziehen, um zu begreifen, was gerade geschieht. Mir genügt der Blick auf die Gegenwart. Angesichts der Vorgänge in Afghanistan bin ich nicht geneigt, an Planlosigkeit zu glauben. Eher an Bösartigkeit. Man hat gedacht, man könnte die Afghan:innen als Menschen siebter Klasse behandeln. Was für ein epochaler Irrtum. Dagegen erleben wir gerade einen breiten Bevölkerungsaufstand. Nicht der Abgesang auf den Westen ist da angezeigt, sondern seine emotionale Reanimation.

Plant das ZPS weitere Aktionen im Zusammenhang mit Afghanistan?
Ich würde am liebsten jetzt nach Kabul kommen. Zumal man als westlicher Staatsbürger mit Erste-Klasse-Pass eine Menge mehr ausrichten kann als die, die weniger privilegiert sind. Heiko Maas darf einen dann wieder retten, was er wahrscheinlich auch nicht kann. Mein Vorbild ist da Varian Fry, der 1941 über 1500 Intellektuellen zur Flucht aus Marseille verholfen hat, darunter Hannah Arendt und Golo Mann, die ihm ihr Leben verdanken. Aber, so hart es ist: die Lage lässt das momentan nicht zu, sie ist absolut zum Verzweifeln. Wenn wir in absehbarer Zeit erleben, dass Afghanistan als totalitärer Terrorstaat zurückfällt, dass die Taliban vielleicht in fünf Jahren radioaktive Bomben in Europa zünden, dann müssen wir an diesen einen Augenblick vor vier Wochen zurückdenken. An den Moment, als wir alle Möglichkeiten gehabt hätten zu handeln.

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