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Der Schweizer Autor Peter Stamm

© promo

Peter Stamms Roman "Weit über das Land": Flucht aus der Liebe

Ein Mann verlässt seine Frau, einfach so, ohne Erklärung: Peter Stamm schreibt über Unsicherheit in gar nicht so unsicheren Zeiten

Der einfache Schmerz ist oft der beißendste. Ein klares Wort, die kurze Andeutung eines bevorstehenden Bruchs kann reichen, um Existenzen zum Einsturz zu bringen. Oft aber ist der schlimmere Schmerz der komplexe, der unbegreifliche, dessen Auslöser im Dunkeln bleibt. Ein Schmerz, der umso stärker brennt, desto genauer man begreift, wie verletzlich man ist.

Der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm weiß diesen Schmerz meisterhaft in Szene zu setzen. Seine Romane handeln vom Alltäglich-Unspektakulären, das der beste Humus für einen welterschütternden Schmerz ist. Er schreibt vom Lieben und Sterben in seinem Roman „Agnes“, von Unfall und Selbstverlust in „Nacht ist der Tag“, von Krankheit und Antriebslosigkeit in „An einem Tag wie diesem“ und nun, in seinem neuen Roman „Weit über das Land“, von Trennung ohne Abschied.

„Wenn wir uns trennen, bleiben wir uns“ hat Stamm seinem Buch ein Zitat aus Markus Werners Roman „Zündels Abgang“ vorangestellt. Thomas, Held von „Weit über das Land“, und Zündel, der seinen Abgang orchestriert: Beide gehen sie, beide trennen sich. Aber damit endet die Gemeinsamkeit. Zündel läuft, sprintet, rennt vor der Polizei weg, wütet gegen Nachbarn, gegen seine Frau, legt sich mit italienischen Ganoven an und schreibt betrunken Manifeste. Thomas geht einfach. Er kauft sich sogar festeres Schuhwerk, um noch stoßneutraler unterwegs zu sein.

Die Frage nach dem Warum - in "Weit über das Land" wird sie nicht einmal gestellt

Zündel geht, weil er der bösartigen Finte eines Hausmeisters glaubt, der behauptet, seine Frau habe ihn betrogen. Thomas geht – ja, wieso eigentlich? Er sitzt mit seiner Frau Astrid bei einem Glas Rotwein zusammen, irgendwo in einem Haus in einem gesichtslosen Vorort. Dann steht er auf, öffnet das Tor, geht die Straße herunter – und verschwindet. In der berühmten Szene des Films „Forrest Gump“ läuft Tom Hanks einfach los, weil er sich denkt: wieso nicht? Thomas scheint sich noch weniger dabei zu denken. Nämlich gar nichts – mehr erfährt der Leser nicht. Die Frage nach dem Warum wird in „Forrest Gump“ nie beantwortet. In „Weit über das Land“ wird sie nicht einmal gestellt. Die einzige, die mit dem Gedanken an das Warum zurückgelassen wird, ist Astrid.

Der Leser ahnt aber, was falsch ist, ohne je über die Ahnung hinaus bestätigt zu werden. Diese Unsicherheit gibt dem Roman eine bedrückende Enge. In Stamms Büchern leben die Figuren stets wie in einem Gefängnis, haben sich darin jedoch so behaglich eingerichtet, dass ein Ausbruch widersinnig erscheinen würde. Und wie die Helden in vielen Stamm-Romanen übt sich auch Thomas in diesem Widersinn. Nur ist dieser Ausbruch dieses Mal nicht Konsequenz, sondern Prämisse des Romans. „Weit über das Land“ handelt von inneren Ausnahmezuständen als Teil einer Daseinslogik der Protagonisten, dass sie unangesprochen, weil unerkannt bleiben.

Peter Stamm erzählt klar und stabil, fein und unauffällig

Peter Stamms Prosa ist wie immer fein und unauffällig, frei von Augenzwinkern, Metaphern oder Aphorismen. Eine klare, stabile Sprache für die klaren, stabilen Verhältnisse der Figuren. Thomas geht – und Astrid fragt sich, wo er ist. Erzählt in abwechselnden Kapiteln. Mehr nicht.

Der Roman rollt langsam an: Wein trinken, Zigaretten rauchen, schlafen, aufwachen. Das ist bisweilen etwas fad. Die Geschwindigkeit wird aber immer höher, ein Viertel des Buches ist ein Tag, die erste Hälfte sind drei Tage, die zweite Buchhälfte ein halbes Leben – auf gerade 223 Seiten. Bis der Leser von der anziehenden Geschwindigkeit mitgezogen wird, muss er stellenweise zähe Naturbeschreibungen (Thomas) oder arg genaue Alltagsrekonstruktionen (Astrid) über sich ergehen lassen.

Dafür haben die zwei Perspektiven unterschiedliche und kohärente Bildsprachen und Motive: Thomas ist immer in Bewegung, Astrid steht still. Thomas berührt Tannendickicht, Nussbäume, Fenchel, Wolfsmilch, die Sonne geht auf und unter, es regnet und schneit und die Erde lockert sich unter seinen Füßen. Astrid bleibt in sich: Sie zweifelt, erfindet Notlügen, vertraut sich an, leidet, relativiert, verdrängt. Sie durchläuft die Trauerphasen. Thomas ist ausdruckslos und bewegt sich in Landschaften. Astrid ist emotionsüberflutet und bewegt sich in Gedanken. Klare, stabile Verhältnisse machen den Bruch umso schmerzhafter. Doch nur an Astrid spürt man ihn. Der Leser erfährt in kleinen Sprenklern den Schmerz, die Bedrückung, den Kontrollverlust, langsam und ziehend, ein beständiger, sägender Schmerz; je weiter man im Roman vorankommt, desto tiefer. Es ist die Ruhe auf beiden Seiten, die so grausam ist.

„Literatur ist das Gegenteil von Polemik. Literatur befreit die Sprache, Polemik missbraucht sie“, hat Stamm in einem Essay für den Schweizer „Tagesanzeiger“ geschrieben. Seine Prosa, seine Themen, seine Regelmäßigkeit – all das ist nie laut, nie polemisch. Es ist auch nicht befreiend. Sondern: angenehm einengend. Wie das Leben in einem Reihenhaus, nicht ganz auf dem Land, nicht ganz in der Stadt; eher anständig als anregend; mit einem Partner, dem man freundschaftlich, nicht leidenschaftlich verbunden ist. Der aber, verschwände er jemals einfach so, nach einem Glas Rotwein, die behagliche Beengung gewaltsam aufreißen würde und eine unangenehme Leere hinterließe.

Peter Stamm: "Weit über das Land". Roman. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2016. 223 Seiten, 19, 99 €.

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