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Auch ein Mythologe in eigener Sache. Peter Sloterdijk. Am Montag feiert er seinen runden Geburtstag.

© Henning Kaiser/dpa

Peter Sloterdijk zum 70.: Nach Gott und vor der Geburt

Ein Denker auf der Bühne, mit immer wieder neuen Einfällen: Zum 70. Geburtstag des Philosophen und Schriftstellers Peter Sloterdijk.

Hochsommerliche Nervenkrisen gehören bei ihm dazu, bekannte Peter Sloterdijk in einem Interview. Rund 14 Tage vor einem Geburtstag werde er regelmäßig von einem Verdüsterungsgefühl heimgesucht, verbunden mit Brechreiz und Migränen. Dabei ist er der Denker der Aufheiterung, der aus dem Trauma der Geburt den maximalen Effekt hervorzuzaubern verstand. Womöglich hat sich dieses Jahr das sonst so verlässliche Repertoire gar nicht eingestellt. Wer siebzig wird, ist auf der Schwelle. Er darf sich zurückziehen, wenn er will, kann aber auch weiter mitmischen und dem wilden Affen Ehrgeiz Zucker geben.

Peter Sloterdijk ist Physiognom aus Leidenschaft, überzeugt davon, dass sich Gesichter wechselseitig formen. Wenn zwei sich ansehen und miteinander sprechen, beeinflussen sie ihre Physiognomie, erst recht, wenn sie einen Nähe-Raum teilen, also öfter vertraute Gespräche führen. Dass Gesichter womöglich wichtigere Intimzonen sind als Genitalien, ist eine seiner Entdeckungen. Als Kind einer deutschen Mutter und eines niederländischen Vaters, eines Lastwagenfahrers und Matrosen, der sich bald aus dem Staub machte, am 26. Juni 1947 geboren, sprudelt Peter Sloterdijk vor Ideen. Sie kommen oft als Überraschungscoup daher. Die Freude am Einfall befördert das rhetorische Energielevel. Ihm zuzuhören ist ein Vergnügen, ihn zu lesen noch mehr.

Der schwerfällige Atem des korpulenten Redners, der so gar nicht zu einem bekennenden Luftikus und Aeronauten passt und erst recht nicht zu einem enthusiastischen Verteidiger aller Levitationskünste, wirkt bei seinen Auftritten irritierend. Als Zuhörer fühlt man sich immer etwas unbehaglich, so als habe man den Vortragenden gezwungen, auf die Bühne zu gehen. Seine Schriften aber sagen das genaue Gegenteil. Peter Sloterdijk liebt den großen Auftritt. Er ist selbst ein „Denker auf der Bühne“, wie er Nietzsche einmal charakterisierte, dessen Stilmittel er perfektionierte, allen voran Hyperbel und Ellipse, also Übertreibung und Auslassung. Es ist ein Schreibstil, der dem Mündlichen nahekommt, ein Stil, der weiß, wie man die performativen Aspekte des Sprechens – Gestik, Mimik, Rhythmus, Ansprache – in Schrift transformiert.

Fleißig: Sloterdijk publizierte bisher rund fünfzig Bücher

Als Mythologe in eigener Sache bringt er seine Lebensgeschichte in zahlreichen Interviews und Gesprächen in ansehnliche Form. Er sieht das offenbar als Training, wie das Fahrradfahren, das er ohne Skrupel überhöht. Man komme einfach als besserer Mensch zurück, wenn man seinen Neurosen zügig davongefahren sei, heißt die beglückende Botschaft für Velotomanen. Überhaupt: Training ist alles! Jedes Ungemach lässt sich als Trainingsherausforderung sehen. Das ist eine seiner Lebensweisheiten. Er spricht auch von „Übungsethik“. In ihr sei die „Vertikalspannung“, die den Menschen aufrichtet und nach Höherem streben lässt, besser aufgehoben als in der Religion. „Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik“ hieß das 2009 erschienene Buch, in dem er diese Idee profilierte und Religionen zu „missverstandenen spirituellen Übungssystemen“ erklärte.

Sloterdijk ist Philosoph, Schriftsteller und Professor. Von 2001 bis 2015 war er Rektor der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, nebenher unterrichtete er in Wien, kurvte und düste durch die Welt, als Vortragender und Lehrender, der sich gern in mediterranen Gefilden aufhält und auch in der Provence einen Wohnsitz hat. Zehn Jahre lang leitete er außerdem mit Rüdiger Safranski das „Philosophische Quartett“ im ZDF.

Er publizierte bisher rund fünfzig Bücher, auch wenn viele Sammelbände von Vorträgen, Reden und Interviews darunter sind. Aber auch die müssen geschrieben oder geführt sein. Das neueste, gerade in seinem Hausverlag Suhrkamp veröffentlichte Buch, „Nach Gott“, ist allerdings ein Etikettenschwindel: keine Monografie, wie es der Klappentext suggeriert, sondern eine Zusammenstellung verschiedener Texte, darunter Kapitel aus früheren Büchern. Da soll wohl allein die Anordnung Zusammenhang stiften.

So viele Einfälle er hat, sein Werk wird überstrahlt von einer genialen Idee, mit der er die heroischen Einsamkeitsfantasien der abendländischen Philosophie in die Rumpelkammer der Geschichte verwies. Der Mensch kommt keineswegs als Einzelner zur Welt, wie es Jahrtausende lang hieß. Er existiert von Anfang an mindestens zu zweit. Vom ersten Moment seiner intrauterinen Existenz vermittelt ihm die Blase, in der er schwimmt, die Präsenz eines anderen. So argumentierte Sloterdijk im ersten Band seiner „Sphären“-Trilogie, „Blasen“, der im Untertitel zunächst „Archäologie des Intimen“ heißen sollte.

Die Plazenta als der nahe, taktile Andere, umfasst vom selben Klangraum des Mutterkörpers wie der Embryo, das war der große Coup des Philosophen. Er setzte seinem Senkrechtstart mit 36 Jahren, als er nach der umwerfenden Erfahrung eines viermonatigen Aufenthalts als Baghwan-Jünger im indischen Pune „Die Kritik der zynischen Vernunft“ auf den Markt warf, die Krone auf.

Sloterdijks Opus magnum ist die "Sphären"-Trilogie

Die „Sphären“-Trilogie, die 1998 bis 2004 erschien, ist Sloterdijks Opus magnum. Wer das Phänomen der Globalisierung grundsätzlich verstehen will, in seiner metaphysisch-kosmologischen, seiner terrestrischen und seiner elektronischen Dimension, sollte die drei Bände studieren. Manche tagespolitischen Einlassungen, etwa über das Verhältnis von Steuern und Gaben oder jüngst zum Thema Grenze, erscheinen im Rahmen des „Sphären“-Projekts in einem anderen Licht. Dennoch ist unübersehbar, dass Peter Sloterdijk seit einiger Zeit auf der Suche nach einem „elastischen Konservativismus“ ist. Was er dazu in „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ (2014) vorlegte, war nicht wirklich überzeugend, auch wenn man seiner Diagnose zustimmt, dass die vom Übermaß geprägte Gegenwart ständig mehr Energie freisetzt, als sie kulturell binden kann.

Vielleicht war es die Sehnsucht nach den experimentierfreudigen Kleingruppen der 1960er/70er Jahre, die den Philosophen dazu bewegte, wieder einmal, so wie 1985 in „Der Zauberbaum“, aufs Terrain der Literatur zu wechseln. Sein „Schelling-Projekt“, ein E-Mail-Roman, der als Wort- und Sekretaustausch rund um einen Forschungsantrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft inszeniert ist, kann man literarisch nur ernst nehmen, wenn man darin eine komödiantische „Gynäkognosis“ erkennt: eine spielerische Erprobung der Idee, die „Ablage des Eis ins Weibchen-Innere“ sei eine „böse Pointe“ der Natur, die den Mann dazu verurteilt, lebenslang die „göttliche Komödie der Genitalien“ aufzuführen.

Misogyn ist das nicht, wie ihm vereinzelt vorgeworfen wurde, eher auf selbstironische Weise komisch. Über einen Tantra-Kurs sagt eine Figur: „Man hätte beinahe vergessen können, dass es sich um Sex handelte. So stelle ich mir Pilzesammeln mit Peter Handke vor.“ Für einen Philosophen, der nicht nur die Metaphysik in eine „Allgemeine Immunologie“ übersetzt hat, sondern auch von einer „Anthropologie der Weltabgewandtheit“ träumte, ist das gar keine schlechte Option.

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