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Caroline Schlegel. Porträt von J. F. A. Tischbein aus dem Jahr 1798.

© The Picture Alliance

Peter Neumanns Buch „Jena 1800“: Wo Nektar und Ambrosia fließen

Anekdotisches Kaleidoskop: Der Autor und Philosoph Peter Neumann rückt Jena als ein Zentrum der deutschen Klassik in den Blick.

Seit einigen Jahren hat sich herumgesprochen, dass Berlin ein wichtiger, wenn nicht der bedeutendste Standort der deutschen „Klassik“ ist. Wer denkt noch an Weimar? Die Studien zur Berliner Großstadtkultur um 1800 nehmen kein Ende. Vor Kurzem erst erschien Marie Haller-Nevermanns Buch „Mehr ein Weltteil als eine Stadt“, in dem aus einzelnen biografischen Portraits ein schönes Panorama des urbanen Geisteslebens entsteht. Und für Mai ist im Wehrhahn Verlag ein weiterer Essayband zu „Berlin 1800“ angekündigt.

Bei alledem ist es nur angemessen, wenn sich auch ein altes Zentrum in der Provinz wieder zu Wort meldet. In seinem Buch „Jena 1800“ wendet sich der Philosoph und Schriftsteller Peter Neumann ab vom „staubigen und ermüdenden“, von Bettwanzen verseuchten Berlin, in dem die „alte Aufklärung“ herrscht und wo es kein Frühromantiker lange aushalten mag. „Statt der Enge des Berliner Klüngels in die Weite der thüringischen Landschaft, wo ‚Nektar und Ambrosia’ fließen“ – so preist Caroline Schlegel ihrem Schwager „Fritz“ den Ortswechsel an. Die Aussicht auf ein „Symphilosophieren“ mit dem Bruder und seiner Frau, mit dem Freund Novalis und Professor Fichte klingt verlockend. Friedrich „Fritz“ Schlegel reist mit Frau Dorothea an.

Bald treten die Schlegel-Paare ins Bild

Auch Goethe, der in Weimar der Staatsminister ist, fährt regelmäßig nach Jena, um dort der Dichter sein zu können. Und selbst die Schwaben scheint es um 1800 eher nach Jena als nach Berlin zu ziehen. Schiller (über dessen „Glocke“ der Schlegel-Kreis fast von den Stühlen fällt vor Lachen), der mit ihm schwäbelnde Schelling, später auch dessen alter Freund Hegel. Das sind viele Namen, und es ist ein schwieriges Unterfangen, mit ihnen gekonnt jonglieren zu wollen. Es dauert denn auch ein bisschen, bis das Buch in Fahrt kommt. Das heißt nicht, dass es nicht mit Geschwindigkeit einsetzt. Aber sie ist zu forciert, allzu rasch werden Figuren wie Fichte, Schelling und Schiller am Anfang abgehandelt (Schillers „Ästhetische Briefe“ in drei Sätzen).

Peter Neumann, geboren 1987 in Neubrandenburg
Peter Neumann, geboren 1987 in Neubrandenburg

© Dirk Skiba

Wenn das personifizierte absolute Ich (Schelling) in seiner Professorenwohnung von Studenten heimgesucht wird und verdutzt bemerkt: „Das Nicht-Ich kann Scheiben einwerfen“, dann ist der karikaturistische Effekt schnell verraucht. Die klischeegerechte Fallhöhe der gravitätischen Gelehrten hat ihren Witz bald ausgehaucht, wie auch viele Sprachwitze eher kurzatmig sind. „Eine neue Epoche wartet auf ihren Auftritt: toi, toi, toi.“ Oder: „Philosophie ist kein Studentenfutter.“ Auf solche allenthalben einschlagenden Geistesblitze hätte das Buch weitgehend verzichten können und wäre immer noch flott genug dahergekommen.

Zum Glück treten bald die Schlegel-Paare ins Bild, und mit ihnen ist es Neumann spürbar ernster, sogar der zunächst verlachte Schelling wächst in ihrer Nähe (insbesondere Carolines) zu einer problematischen Person. Wie die Frühromantiker inmitten der alten provinziellen Honoratiorengesellschaft ein von der Französischen Revolution inspiriertes freieres Leben entwerfen, wie zumal die stark dargestellten Frauen ihre Wege in widrigen Zeiten selbstbewusst gehen, wie der romantische Nonkonformismus philosophisch-literarische Idee und gelebte Praxis zugleich ist, das fängt Neumann gut ein.

Atemberaubende intellektuelle Dynamik

Es geht hier nicht um Einzelbiografien, sondern um die Faszination eines intellektuellen Augenblicks. Durch Zeitsprünge und Verdichtungen gelingt eine Art Simultandarstellung. Man muss noch einmal nachschlagen: Wann ging Friedrich Schlegel fort aus Jena, wann kam Hegel an, wie lange bestand eigentlich die Schlegelsche Wohngemeinschaft, und war Madame de Stael überhaupt je dort? Alles scheint parallel stattzufinden, auch wenn zwischen Schillers Antrittsvorlesung und der Schlacht bei Jena und Auerstedt, den zeitlichen Eckpfeilern von „Jena 1800“, immerhin 17 Jahre liegen.

Der atemberaubenden intellektuellen Dynamik dieser Jahre haben Philosophen wie Dieter Henrich und Manfred Frank ihrerseits Jahrzehnte gewidmet. Entstanden sind dabei philosophische Bohrungen und ideengeschichtliche Panoramen, die selbst schon Klassiker der jüngeren Philosophiegeschichte geworden sind. Peter Neumann wagt sich in einem anekdotischen Kaleidoskop mit Ausflügen in Philosophie, Literatur und Geschichte ganz anders an den Stoff. Das Ergebnis ist ein ausgesprochen unterhaltsames Buch. Die weiterführende Literatur am Schluss lässt sich als Einladung zur Vertiefung verstehen.

Peter Neumann: Jena 1800. Die Republik der freien Geister. Siedler Verlag, München 2018. 256 Seiten, 22 €.

Hans-Christian Riechers

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