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Mahler lauschen. Valérie Dréville und Sava Lolov in Tschechovs "Erzählung eines Unbekannten".

© Jean-Louis Fernandez

Peter Brook und Anatoli Wassiljew: Gefängnis ohne Mauern

Zwei Theatergranden inszenieren: Anatoli Wassiljew mit Tschechow in Straßburg, Peter Brook mit „The Prisoner“ in Paris.

Zinaida Fëdorovna wird teuer dafür bezahlen müssen, dass sie den wahren Charakter ihres Ehemannes nicht begreifen will und ihr Leben ganz schuldlos und aus reiner Liebe dem Beamten Georgij Ivanyk Orlov in die Hände legt. Mavuso hingegen wird reich dafür beschenkt, dass er einen Blick in die Tiefenschichten seiner Seele werfen darf, nachdem er seinen Vater aus Eifersucht ermordet hat. In Straßburg macht Anatoli Wassiljew aus der kleinen Dreiecksgeschichte in Anton Tschechows Roman „Erzählung eines Unbekannten“ eine lange düstere Höllenfahrt, in Paris Peter Brook aus seinem bleischweren Schuld-und-Sühne Stück „The Prisoner“ eine wunderleichte kurze Meditation. Beide Male geht es um Seinsgefangenschaften, um Sehen und die seltenen Momente, in denen es zur Erkenntnis führt.

Zinaida hat sich von ihrem Ehemann getrennt, ist zu ihrem Liebhaber gezogen, will dort einen hübschen Haushalt einrichten. Aber ganz allmählich muss sie begreifen, dass ihr Neuer sein Junggesellendasein nicht aufgeben will und ihm Zinaida immer mehr zur Last wird. Bis er tagelang verschwindet und die Unglückliche allein zurücklässt. Aber immer wenn Ausnahmedarstellerin Valérie Dréville mit ihren Wünschen an dem mürrischen und autoritären Orlov (Sava Lolov) abprallt, springt sie vom Stuhl, tanzt mit kindlichem Vergnügen die drohende Einsicht in den Charakter der Beziehung einfach weg. So geht das Leben hin, beobachtet vom Diener (Stanislas Nordey). Er steckt wie das Ehepaar in einem grauen Kostüm, in einem farblosen, halbabstrakten Salon unter einer alten Sankt Petersburger Stadtansicht. Wie eine elegische Vorahnung flutet immer wieder das Adagietto aus Mahlers 5. Sinfonie durch den Theaterraum.

Gutes altes Theater gehört zerstört

Das ist alles ordentliches, gutes altes Theater – und gehört zerstört. Der Straßburger Intendant Stanislas Nordey, eben noch stummer Diener und heimlich verliebt in Zinaida, springt in Alltagskleidung auf die Bühne und erzählt in einem langen Monolog die Geschichte der Ich- Figur des Tschechow-Romans. Also ebenjenes Unbekannten, der sich als Diener von Orlov einstellen ließ, um etwas über dessen ihm verhassten Vater zu erfahren, den Orlov dann umbringt. Wie er flieht und die unglückliche und schwangere Zinaida gleich mitnimmt nach Venedig. Das gewaltige Prospekt mit der Stadtansicht fällt spektakulär zu Boden und gibt den Blick auf eine alte Venedig-Radierung frei. Nun ist der ehemalige Diener der unglücklich Verliebte, verachtet für seine hölzern und programmatisch dahergeredeten revolutionären Ideen: „Sie haben Angst vor der Freiheit“, sagt ihm Valérie Dréville als schwangere Zinaida nun in sehr schrillen Tönen. Jeder Rest psychologischer Spielkultur ist auf einer zunehmend im Chaos versinkenden Bühnenlandschaft getilgt. In einem bösen Bild sticht sich Valérie Dréville die vor ihren Bauch geschnallte Plastikfruchtblase auf, entlässt einen ekligen Inhalt in eine Schale. Am Ende klettert die Fiktion von Traum und Freiheit in der Figur der Akrobatin Romane Ressendren an einem Mast nach oben, wo die Speichen eines riesigen Sonnenschirms zusammenlaufen. Alle Hoffnung ist gestorben, aber der schöne Traum überlebt im Zirkusbild.

Um Tschechows kleine, finstere Geschichte über die Grenzen der Freiheit zu erzählen, nimmt sich Wassiljew sehr viel, vielleicht zu viel Zeit. Pessimismus dauert, Optimismus geht schnell: Etwas mehr als eine Stunde braucht Peter Brook am Théâtre des Bouffes du Nord, um seinen Protagonisten aus einer finsteren Schuld ins Licht der Erkenntnis zu bringen. Dabei hilft ihm der Ausstieg aus der westlichen Kultur. Eine Reise ins Afghanistan vor der sowjetischen Invasion von 1979 und eine Begegnung mit einem Sufi waren Anlass für „The Prisoner“, das Brook mit seiner langjährigen Mitarbeiterin Marie-Hélène Estienne geschrieben hat. Der afghanische Sufimeister hatte dem Meisterregisseur von einer Empfehlung erzählt, die er einem Richter gegeben hat. Der solle einen Straftäter nicht ins Gefängnis sperren, sondern so lange vor einem Gefängnis Platz nehmen lassen, bis er die Notwendigkeit der Strafe eingesehen habe. In völliger Freiwilligkeit solle er statt physischer Freiheitsberaubung spirituelle Bewusstseinserweiterung erfahren. Diese werde ihm auch offenbaren, wann die Strafe vorbei sei.

Brook hat Akteure aus Mexiko, Indien, Sri Lanka versammelt

So hockt denn Hiran Abeysekera in der Figur des Mavuso zwischen Holzstücken auf der kahlen Bühne, blickt in Richtung der Zuschauer, wo das Gefängnis zu vermuten ist. Er ist ein Einsiedler in Anschauung eines Meditationsgegenstandes, der für andere ganz real zu sein scheint. Dass sich politische Häftlinge, die auf Hinrichtung warten, gelangweilte Wärter und die Gefängnisleitung über den komischen Heiligen wundern und dies im Gefängnis Unruhe stiftet, erfährt er bei einem nächtlichen Besuch des Gefängnisdirektors. Auch ein Bewohner aus dem Dorf beklagt sich über den ungebetenen Gast, der von einfachster Nahrung lebt und mit einer Ratte eine kurze Freundschaft erlebt: In einer spielerischen Miniatur verwandelt der Protagonist den Zipfel seines Tuches in das putzige Tier, das ihn plötzlich beißt und das er erbost mit dem Wurzelholz erschlägt.

Ein kleines Welttheaterensemble hat Brook versammelt: Akteure aus Mexiko, Indien und Sri Lanka. Und er umgibt sie, wie wir es seit Jahrzehnten kennen, auf der freien Spielfläche seines Théâtre des Bouffes du Nord mit nichts, was auch nur entfernt an ein Bühnenbild erinnert. Treibholz, eine Baumwurzel, eine Bank, ein paar helle Tücher reichen für ein globales Irgendwo und Irgendwann, als es noch Wälder mit Zauberbäumen gab. „I am here to repair“, sagt Mavuso immer wieder, und dies ist durchaus auch im religiösen Sinne der Buße zu verstehen. Seine Schuld ist von archaischem Ausmaß und reicht als Stoff für mehr als eine antike Tragödie: Er hat aus Eifersucht den Vater getötet, denn der liebte Mavusos Schwester: Inzest des Vaters, Inzest des Sohnes. Wie immer inszeniert Brook das schwergewichtige Märchen um Schuld und Sühne ganz leicht, mit eben nur skizzierten Bebilderungen der Parabel. Am Ende ist Mavusos Welt eine andere geworden: Der Hass auf den Vater ist verflogen, seine Gefangenschaft in Obsessionen vorbei. Das allerdings behaupten Stück und Regie eher, als dass sie dies im seelischen Läuterungsprozess entwickelten.

Wo bei Sophokles Ödipus die Schuldeinsicht mit dem Erblinden bezahlen muss, gönnt Brook seinem unversehrten Protagonisten Erkenntnis und Freiheit kraft der Sufiweisheit durch den kognitiven Trick der Verkehrung von Innen und Außen. Das physische Gefängnis ist aufgehoben, keine Mauer hemmt den Körper in seiner Bewegung. Stattdessen steht dem Geist die Außenmauer einer Strafanstalt vor Augen, als Bild für innere Gefangenschaft. Solche mentalen Zaubertricks sind Tschechowmenschen nicht vergönnt, Zinaida bringt sich um. Menschen ändern sich nicht, sagt, mit Tschechow, der 76-jährige Pessimist Anatoli Wassiljew, Menschen können sich ändern, sagt, mithilfe entfernter Denkkulturen, der Optimist Brook, der in wenigen Tagen 93 wird.

Eberhard Spreng

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