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Perspektive Deutsches Kino: Mein Vater, der Hallodri

Einsame Herzen, Hippies und Einzelkämpfer: die Perspektive Deutsches Kino entdeckt Lebensfreude wie Gemeinschaftsgeist.

Ist das Liebe, wenn der Mann in den Schrank gesperrt werden möchte, während die Frau Brötchen holen geht? Nur eine der Ungewissheiten, vor denen Silvi steht. Die 47-jährige Mutter zweier Kinder ist aus heiterem Himmel von ihrem Mann verlassen worden, nun findet sie sich unversehens auf dem Verzweiflungsmarkt der „Sie sucht ihn“-Rubriken wieder. Lernt einen hemdsärmligen Busfahrer kennen, der ihr seinen Verkehrsplan vor die Nase knallt, einen romantischen Verführer, der Koks und Prostituierten zuspricht, und einen alleinerziehenden Vater, der hinter übergriffiger Nettigkeit seltsame Neigungen verbirgt. Am Ende ist Silvi, die von Lina Wendel großartig gespielte Titelheldin aus Nico Sommers Spielfilmdebüt, zwar mehrfach enttäuscht worden, aber auch daran gewachsen. Und alleine vorerst besser dran.

Aus 276 Einreichungen hat Linda Söffker, die Leiterin der Berlinale-Reihe Perspektive Deutsches Kino, in diesem Jahr sechs lange Spielfilme, drei Dokumentationen und zwei mittellange Werke ausgewählt. Die meisten davon zeigen einen Trend zur Vereinzelung. Der Gegenwarts-Mensch im Blick der Jungfilmer: entfremdet bis erschüttert. Beziehungen und Familie geben längst keinen verlässlichen Halt mehr, und wo die Liebe einschlägt, bricht erst recht der Boden weg.

Das muss auch der junge Polizist Marc (Hanno Koffler) im Eröffnungsfilm „Freier Fall“ von Stephan Lacant am eigenen Leib erfahren. Der erwartet mit seiner Freundin Bettina (Katharina Schüttler) das erste Kind, kommt aber während eines Lehrgangs seinem Kollegen Kay (Max Riemelt) gefährlich nahe. Zwischen frisch ausgebauter Einliegerwohnung im Elternhaus und homophober Männerkumpanei im Kollegenkreis kämpft Marc gegen die aufwallenden Gefühle. Was Regisseur Lacant in einem beklemmend hautnah gespielten Drama für drei Liebes-Verlierer nachzeichnet.

Am anderen Ende des Genrespektrums setzt Sven Halfars „Dead“ an, eine wilde Extravaganz über einen Rockabilly-Rebellen namens Patrick (Tilman Strauß), der als Outsider aber auch kein Glück findet. Nach dem Selbstmord der Mutter sucht er seinen Hallodri-Erzeuger an dessen 60. Geburtstag heim – und verwandelt die heuchlerische Feier in ein Richtfest. Ein grundböses Gesellschaftsporträt im Gewand der überschießenden Farce, eher Tschechow on Speed als deutsche Pulp Fiction.

Ebenfalls recht düster geht es in den nicht-fiktionalen Werken zu. In Anne Zohra Berracheds Langfilmdebüt „Zwei Mütter“ – zwar ein Spielfilm, aber fundiert recherchiert und teils mit Laien besetzt – entfremden sich Isa (Karina Plachetka) und Katja (Sabine Wolf) bei dem Versuch, mittels künstlicher Befruchtung schwanger zu werden. Die Gesetzeslage hält jede Menge Restriktionen und Kuriositäten wie dänischen Importsamen parat, der unter das Arzneimittelgesetz fällt. Weswegen die beiden auf den Internet-Schwarzmarkt ausweichen, wo dubiose Spender unter Decknamen wie „Go for Gold“ ihre Hilfsdienste anbieten. Das überlebt die stärkste Liebe nicht.

Die Dokumentation „Einzelkämpfer“ von Sandra Kaudelka – ein Höhepunkt innerhalb eines guten Jahrgangs – trägt das Auf-sich-selbst-Geworfensein schon im Titel. Die Regisseurin, selbst in der DDR aufgewachsen, porträtiert das Leben von vier ehemaligen Spitzensportlern, die man im Arbeiter- und Bauernstaat auch Diplomaten in blauen Trainingsanzügen nannte. Mit beharrlicher Ruhe und Einfühlungsvermögen lässt Kaudelka ihre vier Protagonisten Rückschau auf Leistungsdruck, Medaillen und Privilegien halten. Während etwa Ex-Sprinterin Ines Geipel darüber reflektiert, als Sportlerin politisch missbraucht worden zu sein, gibt Kugelstoßer Udo Beyer zu Protokoll: „Ich habe mir nie Gedanken über die Mauer gemacht, sondern darüber, wie ich die Kugel über 20 Meter bringe.“ Immer tiefer durchdringt der Film das sozialistische System des Athleten-Drills, bis hin zu Stasi-Terror und Zwangsdoping.

Andere nehmen nicht das Einzelschicksal, sondern gleich die Welt in den Blick. Und verfallen in Katastrophenstimmung. „Endzeit“ heißt das eindringliche, postapokalyptische Debüt von Sebastian Fritzsch, das von einer Gruppe letzter Überlebender in den Wäldern erzählt – der Mensch wird dabei, wen wundert’s, des Menschen Wolf. Schuld ist ein Meteoriteneinschlag, doch der Film lässt sich mühelos als Fukushima-Parabel lesen.

Um tödliche Strahlung geht es auch in der Dokumentation „Metamorphosen“ von Sebastian Mez. Die führt in den Südural, in eine der am stärksten radioaktiv belasteten Gegenden der Welt. In dieser gottverlassenen Wüstenei, die in bestechenden Schwarz-Weißbildern gezeigt wird, hat sich Ende der Fünfziger ein fataler Unfall in der kerntechnischen Anlage Majak ereignet. Die Alten, die hier dennoch ihr Dasein fristen, begegnen dem Schicksal mit galligem Überlebenstrotz. Wohingegen die Protagonisten aus dem 60-Minüter „Die Wiedergänger“ von Andreas Bolm sich aufgrund eines im Radio gemeldeten Fallouts in eine Art Späthippie-Kommune aufs Land zurückgezogen haben. Auch das: beängstigend.

Allein, es gibt zumindest einen Hoffnungsschimmer. In der überaus amüsanten Dokumentation „Die mit dem Bauch tanzen“ porträtiert die Filmemacherin Carolin Genreith die Bauchtanz-Gruppe ihrer Mutter in der Eifel. Und entdeckt Lebensfreude wie Gemeinschaftsgeist.

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