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Jung geblieben: Karin Hanczewski spielt die rabaukige Nachtschwärmerin Lotte im gleichnamigen Film.

© Martin Neumeyer

Perspektive Deutsches Kino: Mama, werd’ endlich erwachsen

Starke Charaktere, unsichere Welt: Die Perspektive Deutsches Kino erzählt vom Ernst und vom Spiel des Lebens.

Hübsch hässlich, dieses Berlin. Ein transitorischer Hallraum, Ort ewiger An- und Abreise, Metapher für Heimatlosigkeit und Unbehaustheit. So zu sehen in Aline Fischers Drama „Meteorstraße“, dem traurigen, starken Eröffnungsfilm der Perspektive Deutsches Kino.

Und zugleich ist die Stadt für den deutschen Regienachwuchs ein aggressiv ausgelotetes Experimentierfeld der Drogenexzesse, der Grenzüberschreitungen. Eine Spielwiese für „Lotte“, die titelgebende Heldin eines lakonischen Dramas um eine dauerjugendliche Krankenschwester, deren überraschend auftauchende Teenagertochter das von Lotte verweigerte Erwachsenwerden erzwingt. Der Mutterwitz und die Frechheit, mit der die großartige Karin Hanczewski die rabaukige Nachtschwärmerin Lotte spielt, der ist sehr Berlin. Auch die Oberflächlichkeit dieses hedonistischen Lebensentwurfs, der Schwester Lotte zu einer jungen Patientin sagen lässt: „Und wenn du was brauchst, dann fragst du nicht mich.“

Das Gegenbild zur realistischen, unmittelbaren, chaotischen Stadt voller menschlichem Treibsand schafft Manuel Inacker. In seiner formal reizvollen Dokumentation „Pallasseum – Unsichtbare Stadt“ zeigt er die Metropole als urbane Wohnmaschine, genauer: Architektur, Infrastruktur und Bewohner des als „Sozialpalast“ bekannten Betonriegels in der Schöneberger Pallasstraße. Per Splitscreen und in stillen Kameraeinstellungen, die vom Stativ im Flur aus Wohnungen und Fensteraussichten abtasten, entsteht eine Meditation über Räume, Menschen und deren Wechselwirkung. Das ist berlinisch und zugleich universell.

Eine rührende Tragödie

Das gilt auch für das Einwandererdrama „Meteorstraße“, das auf den ersten Blick wie ein filmischer Beitrag zum aktuellen Flüchtlingsthema wirkt, aber dann gewissermaßen dessen Zukunft vorwegnimmt, handelt die Geschichte doch von dem 18-jährigen Palästinenser Mohammed, der sich mit einem doppelten Verlust herumschlagen muss. Vor zehn Jahren floh er mit den Eltern und dem älteren Bruder Lakhdar aus dem Libanon nach Deutschland. Nun wurden die Eltern wieder dorthin abgeschoben und ihr verwaistes Schlafzimmer in einem maroden Haus nahe dem Flughafen Tegel ist das ehrfürchtig konservierte Gedenkzimmer, in das der um einen Ausbildungsplatz bemühte Mohammed sich vor den Attacken seines kleinkriminellen Rabaukenbruders flüchtet. Hussein Eliraqui verkörpert Mohammeds Sehnsucht und Seelennot so leise und glaubwürdig, dass der bewährte Proll-Darsteller Oktay Özdemir dagegen fast ein wenig blass aussieht.

Aline Fischers dicht inszenierte, stimmige Tragödie ist die menschlich anrührendste der vier Produktionen, mit denen die Filmuniversität Babelsberg vertreten ist. Offensichtlich hat die ehemalige Filmhochschule Konrad Wolf im 15. Jahr der 2002 von Dieter Kosslick als Fenster des deutschen Filmnachwuchses gegründeten Perspektive Deutsches Kino einen guten Lauf. Im Gegensatz zur sich geografisch ebenfalls für den Drehort Berlin empfehlenden DFFB. Die ist diesmal überhaupt nicht dabei.

Wobei die Berlinale-Stadt wahrlich nicht der einzige Spielort der zwölf ausgewählten Filme ist.

Regisseurin Jules Herrmann lässt ihren charismatischen, aber schweigsamen Hauptdarsteller Godehard Giese in „Liebmann“ im ländlichen Nordfrankreich ein Trauma bearbeiten. Dessen Ursache offenbart sich erst gegen Ende des munter mit Buchstabentafeln und Einfärbungen experimentierenden Werks und hat dann mit einer ganz anderen Schuld zu tun, als die in den ersten zwei Dritteln gelegte Fährte „deutsch-französische Vergangenheit“ vermuten ließ.

Sich schuldig glauben oder schuldig werden, das ist auch in David Clay Diaz’ parallel erzähltem Drama zweier junger Männer mit dem Titel „Agonie“ Thema. Diaz hat den ursprünglich als Übungsfilm der HFF München angelegten und dann deutlich darüber hinausgewachsenen Film in Personalunion als Produzent und Regisseur gestemmt. Die rein beobachtende, jede emotionale und psychologische Identifikationsfläche verweigernde Darstellung eines Mörders und eines möglichen Selbstmörders spielt in Österreich und könnte deswegen stellenweise durchaus ein paar Untertitel vertragen.

Die Suche nach dem einen Platz in der Welt

Die gibt es dafür in „A Quiet Place“, Ronny Dörflers kurzer Geschichte zweier Schwestern, die in Rumänien auf dem Dorfe der Enge und Herrschsucht des Vaters in Richtung Stadt entfliehen. Oder in „Valentina“, einer eindrucksvollen Dokumentation aus dem Roma-Viertel in Skopje, Mazedonien. Dort zeichnen Regisseur Maximilian Feldmann und Kamerafrau Luise Schröder das warmherzige Porträt eines Familienclans, den die zehnjährige Tochter als Erzählerin vorstellt. Es ist ein Film, der als universelle Armutsparabel taugt. Der von einer der vielen titelgebenden starken Helden der Perspektive getragen wird. Und der von der hohen Qualität der Dokumentarfilme in der auffällig ernste Themen und elementare Menschheitsfragen beackernden Perspektive spricht.

Heimatlos sein, ohne materielle und emotionale Sicherheiten leben müssen und trotzdem eine Zukunft, einen Platz in der Welt haben wollen – das ist ein immer wiederkehrendes, zentrales Motiv der Nachwuchsfilmer. Das passt in die Zeit. Das kann und das muss anstrengen. Schön aber auch, beim Anschauen einer Dokumentation einmal etwas leichter atmen zu dürfen: Till Harms „Die Prüfung“ ist die Antwort auf den Castingshow-Wahn im Fernsehen, auf das Volkssport gewordene öffentliche Bewerten menschlicher Fähigkeiten.

Harms zeigt die Aufnahmeprüfung an der Staatlichen Schauspielschule Hannover. 687 Kandidaten bewerben sich um zehn Plätze und spielen, was das Zeug hält. Der Dokumentarist schafft es, bei den Debatten der ehrlich um Gerechtigkeit bemühten Prüfungskommission dabei zu sein, die sich und ihre mitunter reichlich subjektiven Auswahlkriterien in nie gesehener Offenheit dekuvriert. Das ist ein echter, noch dazu sehr unterhaltsamer Coup.

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