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Hadi Khanjanpour und Pegah Ferydoni in Susan Gordanshekans "Die defekte Katze".

© Glory Film / Julian Krubasik

Perspektive Deutsches Kino: Geht alles kaputt, wird manches heil

Zarte Lieben, dunkle Dämonen und innige Familienbande in der Berlinale-Sektion Perspektive Deutsches Kino.

Weggehen, um anzukommen? Nein, weggehen, um aufzuhören. Mit der ewigen Tretmühle von Terminen und Verpflichtungen, die der systemkonforme Mitteleuropäer so sein Leben nennt. Als der Mann mit dem Fahrradhelm diese spektakuläre Entscheidung trifft, sieht sie kinderleicht, fast schon banal aus. Er radelt eine sommerliche Landstraße entlang, stockt, hält an, steigt ab und macht sich querfeldein davon. Ohne einen Blick zurück. So fängt es an, das Leben eines Taugenichts, wie es der Berliner Filmemacher Julian Pörksen, der sich auch schon in Buchform als Prophet der Zeitverschwendung präsentiert hat, in dem Roadmovie „Whatever happens next“ erzählt. Sein Aussteiger besucht Begräbnisse und Partys, ohne eingeladen zu sein, er folgt Zufallsbekannten, erbittet Obdach und etwas Geld, er lässt sich treiben, immer weiter weg von seiner Frau, seiner Existenz, von daheim.

Es ist eine radikale Geschichte, die Pörksen still vergnügt und betont zeitverschwenderisch erzählt. Gewissermaßen der Gegenentwurf zu all den Zuhausebleiberinnen und Heimkehrern, die die Perspektive Deutsches Kino in diesem Jahr bevölkern. Eine von ihnen ist Charlie, die Heldin des Perspektive-Eröffnungsfilms „Rückenwind von vorn“ von Philip Eichholtz. Die von Victoria Schulz verkörperte junge Lehrerin ist die Fleisch gewordene Ratlosigkeit. Will sie Kinder, will sie keine? Soll sie auf Asienreise gehen oder bei ihrer kranken Oma bleiben? Ist das Leben Pflicht oder Kür? Eichholtz’ Protagonistin ist der Phänotyp urbaner westlicher Mittzwanziger, die auf dem Markt der Möglichkeiten verzweifelt nach Halt und Heimat und dem richtigen Leben suchen.

Diesem Lebensgefühl nachzuspüren, ist die Aufgabe des Regienachwuchses und damit auch der ihm vorbehaltenen Festivalsektion. Die Perspektive zeigt die Zukunft des deutschen Kinos und auch in diesem Jahr lässt sich sagen, dass die offensichtlich nicht im Experiment liegt. Nur einer der 14 Filme erzählt nicht in mehr oder weniger gepflegtem Arthouse- Look realistische Geschichten. Das ist der Horrorthriller „Luz“ von Tilman Singer. Der Absolvent der Kunsthochschule für Medien Köln inszeniert seine für Augen, Ohren und Geist gleichermaßen schwer verdauliche Geschichte der Jagd eines Dämonen auf eine Taxifahrerin in klaustrophobischen Bildern und wildem Sounddesign. Das wird nicht jedem gefallen, „anders“ ist es allemal. Wobei „anders“ im Kino trotz der jüngst wieder von Berlinale-Jury-Präsident Tom Tykwer erhobenen Forderung nach mehr „wilden und sperrigen Filmen“ nicht schon ein Wert an sich ist. Die Sehnsucht nach der unerhörten Geschichte, dem so nie gesehenen Bild, stellt sich jedoch angesichts der oftmals wenig cineastisch, nur mit Nahaufnahmen arbeitenden Debüts auch ein. Allerdings sind die Filmemacher, die einer zu braven Erzählweise bezichtigt werden, naturgemäß im Budget und den Möglichkeiten beschränkt.

Das Motiv Heimat ist präsent

Anders kann da auch das die üblichen Machoklischees negierende Bild des orientalisches Mannes sein, wie es die Filmemacherin Susan Gordanshekan in ihrer zarten Romanze „Die defekte Katze“ zeichnet. Ihre Helden, ein in Deutschland aufgewachsener Sohn iranischer Eltern und seine Braut aus dem Iran, lassen sich freiwillig miteinander vermitteln. Vorsichtig nähern sich der Arzt und die Elektroingenieurin einander an und finden, als die junge Ehe der einander Fremden fast wieder am Ende steht, womöglich doch zueinander. So differenziert gezeichnet ist die Variation des Themas der traditionellen, arrangierten Ehe sonst nie.

Das Motiv Heimat, ob in Deutschland oder dem Iran, ob in Bosnien, in Schweden oder in Polen, ist nicht nur in den Filmgeschichten, sondern auch in den jeweiligen Landessprachen präsent, in denen die DFFB-Absolventin Aleksandra Odik, die Studentin der Filmuni Babelsberg Sophia Bösch und Alexandra Wesolowski von der HFF München ihre fiktiven oder dokumentarischen Familienfilmen drehen. Felix Hassenfratz hat sich gar entschieden, sein auf der Schwäbischen Alb spielendes Drama „Verlorene“ mit Maria Dragus in der Hauptrolle in Dialekt zu inszenieren, was die Verwerfungen in einer Zimmermannsfamilie ganz selbstverständlich erdet.

Schön zu sehen, dass die hier erzählten Emanzipationsgeschichten meist weiblicher Heldinnen in diesem Jahr auch von einem 60-prozentigen Anteil an Regisseurinnen erzählt werden. Da liegt die Perspektive Deutsches Kino im Berlinale-Durchschnitt vorne. Als Trost für die Herrenwelt mag da die Buddy-Komödie „Feierabendbier“ dienen. Ben Brummer feiert in der durchaus stylish anzusehenden Mainstream-Posse den Mann als Kneipenhocker, Autoschrauber und Womanizer. Soll er. Ärgerlich nur, dass Frauen in diesem Münchner Dicke-Eier- Universum nur als blonde Schlampen oder brünette Nervensägen auftreten.

Berührend und irritierend

Damit verglichen nimmt sich die zölibatäre Männlichkeit der „Legionäre Christi“ gleich viel angenehmer aus. Diesem konservativen katholischen Orden ist die Dokumentation „The best thing you can do with your life“ von Zita Erffa gewidmet. Ihre intime Suche nach den Motiven ihres Bruders, Mönch zu werden, gehört zu den vier inhaltlich und formal ausgesprochen bemerkenswerten Dokus der Perspektive. Erffas Bruderbefragung ist so grenzwertig intim wie Veronika Kaserers Sterbe-Film „Überall wo wir sind“. Sie begleitet einen 29 Jahre alten Berliner Tanzlehrer und seine ihm innig zugetane Familie in den letzten Wochen seines Lebens und darüber hinaus. Das ist berührend, aber ob der vor der Kamera ausgestellten Offenheit auch irritierend.

Ein Effekt, der sich auch bei der thematisch ganz anders gelagerten Doku „Impreza – Das Fest“ einstellt. Darin schlackern der Polin Ola anlässlich eines Familienbesuchs angesichts der antieuropäischen und antiliberalen Ansichten ihrer gebildeten Familie die Ohren. Hier lässt sich ebenso viel über die derzeit gemeinhin als politisch verblendet geltenden Polen lernen wie in der diskreten Doku „Draußen“ über die meist als Opfer betrachteten Obdachlosen. Diese augenöffnende Kraft des Kinos ist genauso viel wert wie das wilde Experiment.

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