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"The Spinning Oracle of Delphi" von James Lee Byars aus dem Jahr 1986.

© Galerie Kewenig

Performancekünstler James Lee Byars: Ein Magier der Stille

Auf der Suche nach dem perfekten Moment: Die Galerie Kewenig widmet dem Performancekünstler James Lee Byars eine Retrospektive in ihrem Berliner Barockpalais.

Zum ersten Mal seit dem Tod von James Lee Byars 1997 in einem Kairoer Hotelzimmer mit Blick auf die Pyramiden zeigt die Galerie Kewenig wieder eine Ausstellung des großen „Magiers der Stille“. Wie von Zauberhand verwandelt sich das Berliner Barockpalais in der Brüderstraße in „The Palace of Perfect“, die Mallorcinische Dependance in Palma zeigte bis vor kurzem die Ausstellung „The World Question Center“ – und beide sehen so aus, als wären sie von Byars selbst genau so geplant und eingerichtet worden.

Perfektion ist das Zauberwort, das den Performance-Künstler stets angetrieben hat. Immer auf der Suche nach dem perfekten Moment, dem perfekten Kuss, dem perfekten Liebesbrief, dem perfekten Lächeln und dem perfekten Tod, bleibt seine weiß, gold oder schwarz gekleidete Erscheinung mit hohem Hut und halb verschleiertem Gesicht unvergesslich. So unvergesslich wie flüchtig bleibt etwa der Moment, als Byars 1974 aus dem Palais des Beaux Arts in Brüssel trat, um die ewigen Buchstaben des perfekten Liebesbriefes „Love You“ in die Luft zu schreiben oder 1994 dem Museum Ludwig anlässlich des ersten Wolfgang Hahn Preises mit einer winzigen Bewegung des Mundwinkels „The Perfect Smile“ schenkte.

Dem Ephemeren im Werk des Selbstdarstellers steht jedoch immer das Ewige gegenüber, dem Immateriellen der Performance die materielle Kostbarkeit von Gold und Marmor, der Leichtigkeit des Seidenpapiers die Schwere des Steins, der minimalistischen Form die barocke Inszenierung, der Extravaganz des Dandys die Verschleierung des Privatmannes, der Vergänglichkeit des Lebens die Ewigkeit des Todes. Mehr als zwanzig Jahre nach dem Tod des Künstlers weckt die Ausstellung deshalb größte Neugier und Erwartungen.

Betritt man „The Palace of Perfect“ durch die schwere Eichentür der Galerie Kewenig, so zeigt sich die langgestreckte Eingangshalle bis zum barocken Innenhofgarten in leuchtendem Rot mit einer blattvergoldete Amphore, die beinahe bis unter die Decke reicht und den Besucher in ihren dunklen Bauch blicken und über „The Spinning Oracle of Delphi“ (1986) rätseln lässt. Zur linken Seite öffnet sich ein schwarz gestrichener Raum, der fast in Gänze von einem goldenen Rundtisch von fünf Metern Durchmesser eingenommen wird. 16 goldgefasste Marmorobjekte in Form der Mondphasen bilden gemeinsam „The Moon Books“ (1989). Der Raum zur rechten Seite mit seiner stuckverzierten Deckenmalerei ist ganz in Gold gefasst. Nur ein antiker Dolch, „The Dagger“ (1989) steckt in der Wand, und eine Marmorkugel liegt auf dem Boden. Nach Schwarz, Rot und Gold folgt im dritten Raum des Erdgeschosses „The Unicorn Horn in the white circle“ (1984), zwar nicht das magische Horn eines Einhorns, aber der Stoßzahn eines Narwals auf weiße Fallschirmseide gebettet, die üppig drapiert auf einem antiken Tisch ausgebreitet ist.

Zwischen künstlerischen und kulturellen Dualitäten

Über die schwere Eichentreppe gelangt man in die erste Etage, wo sich die perfekte Inszenierung mit zwei weiteren Installationen und Vitrinenobjekten aus den 1980er Jahren fortsetzt. „The Book of the 100 Perfects“ (1986) komprimiert noch einmal das Streben nach Vollkommenheit in einem quadratischen Stapel schwarzen Seidenpapiers zwischen zwei Buchdeckel aus dunklem Samt. Überhaupt kommt das Buch als Medium und Objekt, ob winzig klein oder riesig groß, aus Papier oder Marmor, mit oder ohne Text in der sternenverzierten Schrift von James Lee Byars seinem Konzept der Perfektion am nächsten. Dagegen wird mit „The Chair of Transformation“ (1989), einem Stuhl aus dem 17. Jahrhundert in einem Zelt aus roter Seide und „The Poetic Conceit“ (1983), der Schwarzweißkopie des berühmten Tischbein Gemäldes von „Goethe in der Campagna“ vor einem schwarzen Seidenvorhang der theatralische Ästhetizismus derart auf die Spitze getrieben, dass er ins Leere zu kippen droht. Vergeblich sucht man nach dem rettenden Funken Humor, den Byars durchaus aufblitzen ließ, als er nach seinen Vorbildern gefragt mit dem Dreigestein antwortete: „Gertrude Stein, Einstein, Wittgenstein“.

In seiner individuellen Mythologie bewegt sich Byars zwischen künstlerischen und kulturellen Dualitäten seit jeher auf einem schmalen Grat zwischen Kitsch und Kunst. Der in Detroit geborene US-Amerikaner wurde durch seinen zehnjährigen Aufenthalt in Japan von der fernöstlichen Kultur des No-Theaters, der Shinto-Rituale und des Zen-Buddhismus geprägt. Seine Karriere nahm dann Ende der sechziger Jahre ihren Ausgang von Antwerpen, wo er im Umkreis der legendären Wide White Space Gallery zur künstlerischen Avantgarde um Broodthaers und Beuys gehörte. Wie bei letzterem muss sich allerdings auch Byars’ Werk heute der Frage stellen, was von der Aura des Werkes nach dem Tod des Autors bleibt.

Nicht die richtigen Antworten, sondern die richtigen Fragen

Wer eine Ahnung von der Ausstrahlungskraft des Künstlers bekommen will, musste nach Mallorca reisen, wo die auf Film aufgezeichnete Performance „The World Question Center“ von 1969 zu sehen war. In der Mitte eines Kreises von Menschen, die in einem für Byars typischen Gemeinschaftsgewand aus pinkfarbener Seide am Boden sitzen, befindet sich der Künstler wie ein Zen-Meister flankiert von je zwei jungen Frauen. Auf der Suche nach den zentralen Lebensfragen befragt er die Gesprächsteilnehmer, darunter Marcel Broodthaers, aber auch andere Künstler, Kuratoren und Intellektuelle wie John Cage, Joseph Beuys, Walther Hopps oder Marshall McLuhan per Telefon nach den für sie wichtigsten Fragen.

Nicht in der Suche nach der richtigen Antwort, sondern nach der richtigen Fragestellung, nach Schönheit und Perfektion liegt die Kunst von James Lee Byars. Meine Frage an James Lee Byars, der sein eigenes Verschwinden im Goldlamé-Anzug auf dem Boden eines rundherum blattvergoldeten Raumes liegend zelebrierte, würde lauten: „Wie kann die Vergänglichkeit der Schönheit zur Schönheit der Vergänglichkeit werden?“

Eine Ahnung davon mag vielleicht die kommende Herbstkollektion der belgischen Designerin Ann Demeulemeester geben, die sich von der Künstlergeneration der Wide White Space Gallery in Antwerpen und insbesondere den Performances von James Lee Byars inspiriert hat lassen.

Galerie Kewenig, Brüderstr. 10; bis 29. 6., Di–Sa 11–18 Uhr.

Dorothea Zwirner

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