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Kein Wasser, kein Leben: Szenerie im kalifornischen Death Valley, dem Schauplatz von Percival Everetts Roman "Erschütterung"

© imago/robertharding

Percival Everetts Roman "Erschütterung": In der Höhle des Nichts

"Erschütterung", Percival Everetts großartig erbarmungsloser Roman über Schmerz, Angst, Leere und Verlust. Eine Entdeckung!

„Naught's Cave“, eine unzugängliche Höhle im Grand Canyon, ist der Ort, den Zach Wells am besten kennt. Er hat nichts dagegen, wenn man ihn ein „Arschloch“ nennt.

Was andere für Schroffheit halten, ist in seinen Augen einfach nur direkt. Doch irgendwie scheint er auch an einer freundlicheren Version seiner selbst zu hängen.

Drei Monate war seine Tochter alt, als er sich in sie verliebte. Den Augenblick hat er im Gedächtnis behalten, er ist ihm wichtiger als vermeintliche Blutsbande. Zach Wells ist Geologe und Paläontobiologe, sein Spezialgebiet ist die Vogelwelt von „Naught's Cave“, der Höhle des Nichts oder der „Nichts-Höhle“, wie Nikolaus Stingl übersetzt.

„Erschütterung“ ist ein erbarmungsloser Roman über Schmerz, Angst, Leere und Verlust. (Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser Verlag, München 2022. 285 Seiten, 23 €.)

In blendend knappen Szenen, mit Dialogen voller Leerstellen und doch so direkt im Zugriff, dass die Figuren klar umrissen vor unseren Augen stehen, erzählt Percival Everett eine Tragödie von shakespearescher Wucht.

Mit dem knochentrockenen Beat der Trostlosigkeit

Sarah, die mit ihren zwölf Jahren längst besser Schach spielt als ihr Vater, macht eines Tages einen groben Fehler. Unachtsamkeit passt eigentlich nicht zu ihr. Umso alarmierender ist es, dass sie behauptet, sie habe den Läufer nicht gesehen, der ihren Springer schlug. Die Eltern müssen befürchten, dass mehr dahintersteckt als ein optisches Problem.

Percival Everett erzählt seinen Roman aus der Perspektive Zachs. Sein Charakter prägt alles, was wir erfahren und wie wir es erfahren. So kommt zur Bitterkeit des Stoffs ein emotionaler Spin dazu, der sich wie eine Gräte in der Kehle verkeilt. Es ist beileibe nicht so, dass Zach Wells der harte Kerl wäre, der er vorgibt zu sein.

Er ist ein Verwundeter, früh durch den Selbstmord seines Vaters verletzt und ziemlich auf der Hut, sich alles vom Leib zu halten, was die Hilflosigkeit reaktiviert, die er als Junge empfand, der den Vater damals fand. Ironie und Humor, das sind in seinen Augen die besten Mittel, um mit Tragödien umzugehen. Aber natürlich helfen sie nicht, wenn bei der eigenen Tochter eine unheilbare Krankheit diagnostiziert wird.

„Erschütterung“ ist ein unsentimentaler Roman mit dem Beat trockener, harter Trostlosigkeit. Man merkt sofort, dass hier ein Autor am Werk ist, der seine Mittel als Präzisionsinstrumente einsetzt und auch Genre-Elemente nicht scheut. Zugleich hat der 1956 in Fort Gordon/Georgia geborene Schriftsteller ein enormes Raumgefühl, wenn er die Elemente des Plots in variierende Kontexte stellt und die Größenordnung verschiebt.

Der amerikanische Schriftsteller Percival Everett.
Der amerikanische Schriftsteller Percival Everett.

© privat

Zachs Frau Meg lehrt ebenfalls an der Uni, sie ist Lyrikerin und glaubt, seit der Geburt der Tochter ins Hintertreffen geraten zu sein. Ihre Ehe gerät durch die Krankheit weiter unter Druck. Beide möchten stark sein für die Tochter. Sie versuchen, ihre Angst vor Sarah zu verbergen. Unterdrückte Angst ist das bestimmende Gefühl des Romans.

Wie Everett diese Angst durch den Roman laufen lässt, zeigt den Meister. Sie hat etwas von einem wilden Tier, das sich versteckt, von dem man oft nur Spuren sieht. Die Rückschlüsse auf seine Größe und Gefährlichkeit sind umso furchterregender.

Sie heizen die Imagination an. So ist das Spielfeld des Romans nicht nur die kleinfamiliäre Triangel, es geht auch in die Berge rund um Los Angeles, in kalifornische Wüstenlandschaften, auf zweitägige Exkursionen mit Studierenden, wo es Schlangen gibt, Bären und Wildkatzen, aber auch die Avancen einer Studentin und die offen bleibende Beziehung zu einer Kollegin, die vergeblich um einen festen Vertrag kämpft.

Die Erzählung von der abgewehrten Verehrerin, die er stolz nach Hause bringt, kann Meg nicht ganz so heroisch finden, wie er sich das vorstellt. Sie erkennt darin nichts als Eitelkeit, selbst dann noch, wenn das Leben seiner Tochter gefährdet ist. Zach weiß genau, dass der Radius, den er sich erhält, auf Kosten seiner Frau geht. Ein klassisches Setting, ausgereizt bis zur Schmerzgrenze.

Früh bringt Everett eine Parallelhandlung in Gang. In einer bei ebay gekauften Jacke findet Zach einen Zettel. „Ayúdame“, steht darauf. „Hilf mir“ – der Appell erreicht ihn. Anonym, schriftlich und rätselhaft, hat das Fundstück offenbar genau die Form, die ihn anspringen lässt.

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Während er Megs Hilfsbedürftigkeit als Spiegel seiner eigenen abwehrt, erweitert der Zettel seinen Handlungsspielraum. Er bestellt noch mehr Kleidung beim selben Händler und findet einen weiteren Zettel mit einem Namen und einer kryptischen Adresse. Sie führt ihn nach Texas und schließlich nach New Mexico. Drogenkartelle, Kidnapping und Mädchenhandel kommen ins Spiel – und eine heroische Rettungsaktion.

Was ist das für ein Schriftsteller, der all das kann? Percival Everett, Professor für Englisch an der University of Southern California, hat rund dreißig Bücher geschrieben, vorwiegend Romane. Drei wurden bisher auf Deutsch publiziert. Begonnen hat Everett als Maler, womöglich kommt daher sein Gespür für die Anordnung von Figuren im Raum, für die Bedeutung von Stimmungen, Perspektiven, Ortswechseln.

Seit „Suder“, seinem Debütroman von 1983, wehrt Everett sich dagegen, in die Schublade des afroamerikanischen Schriftstellers gesteckt zu werden. Entsprechend lange flog er unter dem Radar des amerikanischen Literaturbetriebs, bis ihm 2001 mit seinem metafiktionalen Roman „Erasure“ („Ausradiert“, 2008), der genau dieses Schubladen-Denken persifliert, der Durchbruch gelang.

Bislang wurden drei Romane von Everett ins Deutsche übersetzt

Er hat Western-Parodien geschrieben wie „God's Country“, poststrukturalistische Romane mit ellenlangen, an Laurence Sterne erinnernden Titeln und Neu-Erzählungen griechischer Mythen („For Her Dark Skin“, „Medea“).

Die Frage der Identität stellt Everett in den Kontext einer langen philosophischen Tradition, insbesondere der Phänomenologie. Er gehe wieder zurück zu Husserl, Sartre, Camus und Merleau-Ponty, erzählte er kürzlich in einem Gespräch mit der „New York Times“. Auch Karl Jaspers habe er wiederentdeckt.

„Ich bin Zach Wells“, stellt sich sein Erzähler am Anfang vor. Es klingt wie ein Echo des Diktums von Gertrude Stein: „Ich bin ich, weil mein kleiner Hund mich kennt.“

Was für ein grandioser Roman

Als seine Tochter bei einer Paris-Reise plötzlich verschwindet und bei einer Demonstration gegen die Homo-Ehe wieder auftaucht, verliert Zach Wells die Beherrschung.

Ein weißer Mann mit Pistole scheint auf Sarah zu zielen. Alle Alarmglocken schrillen. Plötzlich sieht er nur noch ihre Hautfarbe, die für ihn normalerweise nicht zu ihren bemerkenswerten Eigenschaften zählt, die er aber kurz zuvor hervorhob, um die Suche nach der verschwundenen Tochter zu erleichtern: „Je cherche une fille brune“, sagte er zu einem Polizisten, das äußere Merkmal herausgreifend, das in einer vorwiegend weißen Gesellschaft am schnellsten ins Auge sticht. Paris ist nur ein Probelauf für den Abschied, der Zach bevorsteht. Dass er nicht nur Sarahs Tod fürchtet, sondern auch den Verlust ihres Blicks, ist eine der tragischen Wahrheiten des Romans. Zach weiß, dass mit der Tochter auch ihre Wahrnehmung von ihm verschwindet. Sie hat aus ihm einen liebenswerten Menschen gemacht, eine Sicht, die er selbst nicht herstellen kann.

Was für ein grandioser Autor – und welch ein Glück, dass sich der Hanser Verlag seines Werks angenommen hat.

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