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Der Weg in den Aufruhr. Ausschreitungen in Harlem nach Protesten gegen rassistische Polizeigewalt, Juli 1964.

© AFP

Paul Auster und sein Amerika-Roman "4 3 2 1 ": Mein Name sei Ferguson

Amerikanische Dramen: Paul Auster, der am 3. Februar seinen 70. Geburtstag feiert, veröffentlicht den Großroman „4 3 2 1“. Es ist ein Meisterwerk geworden.

Welch ein Auftakt! Schon mit der ersten Szene seines mehr als tausendseitigen Romans „4 3 2 1“, der Anfang kommender Woche zeitgleich in den USA und in Deutschland erscheint, hat uns der Geschichtenerzähler Paul Auster an der Angel. Als „Fergusons Großvater“ der „Familienlegende zufolge“ von seiner „Heimatstadt Minsk“ zu Fuß über Warschau und Berlin nach Hamburg gelangt war und von dort mit einem Schiff namens „Kaiserin von China“ just „am ersten Tag des zwanzigsten Jahrhunderts“ den Hafen von New York erreicht hatte, riet ihm ein anderer russischer Jude, beim Einwanderungsbeamten auf Ellis Island statt seines unaussprechlichen Namens Reznikoff einfach „Rockefeller“ anzugeben. „Damit kannst du nichts falsch machen.“

Neuer Name, neues Leben

Sobald der erschöpfte Isaac Reznikoff aber in der Schlange der Wartenden endlich an den Tisch des Beamten tritt, fällt ihm der angeratene Name nicht mehr ein. In seiner Verzweiflung sagt er auf Jiddisch: „Ich hob fargessen!“ Paul Auster endet den ersten Absatz des Buchs: „Und so begann Isaac Reznikoff sein neues Leben in Amerika als Ichabod Ferguson.“

Eigentlich nur ein Scherz. Doch kommt der Romanautor darauf zurück. Denn genau sieben Jahrzehnte später, am 1. Januar 1970, erzählt Archibald Fergusons Mutter ihrem Sohn die Anekdote des damals eingewanderten, längst verstorbenen Schwiegervaters als „alten Witz“. Worauf der knapp 23-jährige Archibald, die Hauptfigur des personenreichen Riesenromans, die blitzartige Eingebung erfährt, dass nicht nur Namen, sondern auch alle Biografien letztlich auf komischen oder tragischen Zufällen beruhen; dass jedes Leben haarscharf auch ein anderes Leben bedeuten könnte, dass Identitäten dadurch unscharf, offen, fließend sein mögen. Und jede Fiktion schafft die – einzig wahren – alternativen Fakten.

Paul Auster
Paul Auster

© picture alliance / dpa

Auf den letzten acht Seiten kommentiert Austers Ferguson, der plötzlich auch nicht mehr Ferguson heißen könnte, das Prinzip des Romans „4 3 2 1“, in dem der Jungautor Ferguson nun am Ende einen Roman mit eben diesem Titel zu schreiben beginnt. Es ist das Muster der einst auch von Michael Ende, nomen est omen, erdachten „Unendlichen Geschichte“. Der Spiegel im Spiegel des Spiegels des Spiegels. Immerfort.

Auster erzählt so von vier Jungen namens Ferguson, die „identisch, aber verschieden“ sind. Es gibt Ferguson 4, 3, 2, 1, wobei die abnehmende Zählweise auf die Einheit des letztlich Einzigen verweist, der von sich, wie einst der Dichter Rimbaud am Beginn der Moderne, sagen könnte: „Ich ist ein anderer.“

Auch das ist kein ganz neuer Gedanke. Max Frisch etwa hatte in seinem Roman „Mein Name sei Gantenbein“ vor gut fünfzig Jahren die Erscheinungen seiner Erzählfigur wie Kostüme gewechselt. Und Yasmina Rezas Erfolgsstück „Drei Mal Leben“ entwarf zu Beginn dieses Jahrhunderts eine Trilogie des Wiedersehens der jeweils selben und doch ganz anders verlaufenden Begegnung zweier Paare.

Ein Held, multipliziert mit 4

Die Monumentalversion von vier Mal Ferguson spielt freilich auch mit der Biografie ihres Schöpfers. Das beginnt schon mit der Geburt, denn Ferguson mal vier kommt am 3. März 1947 in New Jersey vis-à-vis von Manhattan zur Welt und ist auf den Tag nur einen Monat jünger als der New Yorker Paul Auster, der am kommenden Freitag 70 wird.

Dieser große Meister der detektivischen Scharaden, der vom Romantischen ins Realistische und zurück ins Surreale, Absurde, Fantastische kippenden Storys liebt ja in all seinen mittlerweile fast zwanzig Romanen (plus Gedichten, Essays, Übersetzungen, Filmen) die teils offenen, teil untergründigen Referenzen. Auster bezieht sich gerne auf andere Autoren und Künstler – oder auf sich und seine eigenen früheren Bücher und Motive. Er verwandelt sie sich so aufs Neue, meist Überraschende an. Und apropos Verwandlung: Eine vom Jungdichter Ferguson erfundene Figur trägt den Namen Gregor wie Gregor Samsa in Kafkas „Verwandlung“ (worauf Auster eigens und etwas explizit hinweist). Oder Ferguson schreibt an einem „Scharlachroten Notizbuch“, zudem wird ein „Moon Palace“ erwähnt, was an Austers eigenes essayistisches „Rotes Notizbuch“ oder an seinen Roman „Moon Palace“ erinnert, der im Deutschen eher irreführend „Mond über Manhattan“ hieß.

Kenner und Liebhaber/innen des oft bewunderten Autors und seiner Schriftsteller-Gattin Siri Hustvedt, die beide lange als schönstes, brillantestes Paar der internationalen Literaturszene galten, sie alle werden in dem Tausendseiter nun auch tausend Anspielungen wiederfinden. Es ist eine Familiensaga im jüdisch-amerikanischen Ostküstenmilieu und ein im Inhalt (nicht in der Konstruktion) durchaus traditioneller Bildungsroman: eines US-Boys, den die weißen, wohlerzogenen Highschool- und College-Girls meist weniger reizen als die in jeder Hinsicht farbigeren, gar irgendwie französisch, italienisch, israelisch angehauchten Ausbrecherinnen. Darüber, dahinter schweben die gehassten oder eher heimlich geliebten, vermissten, gesuchten Väter, die gelegentlich musisch begabten Mütter, Tanten, Cousinen, die mal banalen, mal bizarren Verwandten, die, ohne Fergusons Kinder- und Jugendfreunde mitzurechnen, einen mitunter unübersichtlichen Reigen ergeben.

So viele Namen wie in russischen Romanen

Da wünschte man sich, wie bei russischen Romanen des 19. Jahrhunderts, gelegentlich ein Personenverzeichnis. Zudem wird Archibald alias Archie Ferguson vom Autor überwiegend nur mit dem Nachnamen benannt, den ja ebenso Vorfahren und Verwandte tragen. Zwar stirbt Fergusons Vater schon relativ früh beim Brand seines Gemischtwarenkaufhauses, und auch Archibald rafft bei seinem ersten Londonbesuch als zwanzigjähriger Buch-Debütant ein wegen des Rechtsverkehrs beim Überqueren der Straße nicht beachtetes Auto dahin. Dennoch leben Vater und Sohn ebenso wie einige andere (Un)Tote bald darauf weiter, was Paul Auster mit geradezu verwirrend raffinierter Selbstverständlichkeit geschehen lässt. Seine vier Fergusons und ihre verschiedenen (Über)Lebensversionen sind nämlich nicht eigens gekennzeichnet, die Varianten ergeben sich nur so schlicht wie komplex aus den fortlaufend nummerierten, indes nicht weiter titulierten Kapiteln.

Diese gleichsam kubistische Mehrfachansicht der Figuren gehört hier zum Abenteuer des Lesers. Auster schreibt nicht einfach die in der Weltliteratur unendliche Geschichte der Identitätssuche fort. Er erfindet keine unterschiedlichen Identitäten, sondern schafft tatsächlich identische Unterschiede. Multikulturalität und Multipolaritäten in einem. Das lässt den ab Pubertätsbeginn von Literatur und Liebe, von sexuellen und intellektuellen Genüssen besessenen Ferguson darum schon früh mit Mädchen und Männern schlafen – ohne alle Selbstzweifel oder jene Schuldgefühle, die in Anbetracht eines Heranwachsens in den zwischen Prüderie und Enthemmung changierenden 1950er/’60er Jahren zunächst zu erwarten wären.

Genau darin spürt man, warum Paul Auster hier und heute von einem vermeintlich vergangenen Amerika erzählt. Dieses Buch ist ein wuchtiger Entwurf – gegen die neue populistische Einfalt, die mit dem Schlagwort der „Identitären“ die Vielfalt und Widersprüche des Individuums und der Gesellschaft mit wachsender Gewalt negieren und nivellieren will. Und von Gewalt handelt auch der historische Rahmen in „4 3 2 1“.

Ein Roman als Nachkriegsbuch

Da die Geschichten des 1947 geborenen Ferguson, der in New Jersey und New York zur Schule und auf die Colleges der Princeton und dann der Columbia University geht, im Jahr 1970 enden, ist Austers Roman ein Nachkriegsbuch, das am Rande, doch ständig präsent, auch die Erinnerung an erstaunlich viele Kriege und Konflikte wachruft. Korea, Vietnam, Kambodscha, die amerikanischen Rassenunruhen, die Kubakrise, der Berliner Mauerbau, die russischen Panzer in Prag, nur den französischen Frühling 1968 blendet Auster aus, obwohl zwei oder drei seiner Fergusons, ebenso wie einst Auster selbst, zwischenzeitlich mit Literatur und Liebe arm, aber meist glücklich in Paris leben. Dabei ist der Mythos von Eros und Thanatos immer sehr gegenwärtig, bis hin zum Tag der Ermordung John F. Kennedys, an dem sich Archibald und eine Freundin trotz allen Erschreckens in tröstender Wonne ihrer „Jungfräulichkeit“ (so heißt es) begeben. Was vielleicht eine Pointe zu viel sein mag.

Aber Auster liebt Koinzidenzen und die Bedeutung des Zufalls. Er liebt neben den Künsten, der Poesie, der Philosophie und dem Film auch Baseball und Football. Weshalb man in diesem Amerika-Buch nicht nur auf Kleist, Schopenhauer oder Adorno, auf Austers wunderbare Übersetzung eines Apollinaire- und eines Éluard-Gedichts, auf schätzungsweise hundertfünfzig Filmtitel inklusive der Nacherzählung von Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ trifft, sondern oft seitenweise auch auf Sportler und Spielzüge von jahrzehntealten Partien der US Major League oder von Fergusons Studententeam. Da muss man dann durch.

Und es lohnt sich. Denn in der trefflichen Übertragung von gleich vier deutschen Übersetzern (Thomas Gunkel, Werner Schmitz, Karsten Singelmann und Nikolaus Stingl) ist Austers Reichtum der Imagination immer wieder spürbar: Wenn im Yankee-Stadium jemand hinter dem jungen Erzähler ausspuckt, und ihn trifft „ein dicker Schleimbatzen, der ihm das Gefühl gibt, eine rohe Auster krieche über seine Haut“, dann macht dieser „Zufallstreffer“ die Welt plötzlich fremd, ungeheuer. So ungeheuer wie das ganze große Land Amerika, das am Ende, zur Zeit der Nixon-Präsidentschaft, zerrissen ist zwischen Vietnamkrieg und dem Kampf um die Bürgerrechte. In einer Geschichte in der Geschichte ist dann gar vom „Verlust der Hoffnung auf die Zukunft“ die Rede. Da trifft Paul Austers Great American Novel mit der Antizipationskraft großer Literatur auch tief ins Herz der Gegenwart.

Paul Auster, als Sohn jüdischer Einwanderer aus Galizien geboren am 3. Februar 1947 in Newark, New Jersey, lebt mit seiner Frau, der Schriftstellerin Siri Hustedt, im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Nach Jugendjahren als Übersetzer und Sprachlehrer in Paris und zahlreichen literarischen Versuchen wurde die New York Trialog 1987 zum Durchbruch als Romancier ( u.a. „Mond über Manhattan“, „Mr. Vertico“, „Musik des Zufalls“ und 2010 „Sunset Park“). Auster schrieb für Wayne Wang die Kinofilme "Smoke /Blue in the Face" und führte bei „Lulu on the Bridge“, in dem seine Tochter Sophie Auster spielte, 1998 auch selber Regie. Seinen neuen Roman wird er am 13. März in Berlin im Großen Sendesaal des RBB vorstellen.

Sein neuer Roman "1 2 3 4" erscheint bei Rowohlt. Übersetzt von: Werner Schmitz; Thomas Gunkel; Nikolaus Stingl; Karsten Singelmann. 1264 Seiten, 29,95 €.

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