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Haussmanns Stadt. Gustave Caillebotte malte diese Ansicht mit dem Titel „Die Kaserne Pépinière“ im Jahr 1878.

© Comité Caillebotte, Paris

Paris im 19. Jahrhundert: Das Labor der Moderne

Von Victor Hugo bis zur Weltausstellung 1867: Romanistin Walburga Hülk wandert in ihrem Buch „Der Rausch der Jahre“ durch das Paris von Napoleon III.

Paris, das Walter Benjamin zur „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ adelte, bleibt ein unverwüstliches Thema der Schriftstellerei. Gerade ein knappes halbes Jahr ist seit der Veröffentlichung von Volker Hagedorns Musikergeschichte „Der Klang von Paris. Eine Reise in die musikalische Metropole des 19. Jahrhunderts“ vergangen, da legt die Romanistik-Professorin Walburga Hülk mit dem ähnlich ambitionierten Buch „Der Rausch der Jahre. Als Paris die Moderne erfand“ ein weiteres Exempel des unverwüstlichen Paris-Genres vor (Hoffmann und Campe, 415 S., 26 €.). Man sollte meinen, dass der Weg, den „die“ Moderne in der Seine-Metropole genommen hat, insbesondere während des Zweiten Kaiserreichs 1852 bis 1870, zur Genüge ausgetreten sei. Doch so viel an Literatur, Musik, Kunst, Theater, an Stadtplanung und Architektur ist in diesen wenigen Jahrzehnten geschaffen worden, dass das Reservoir für immer neue, variierende Kompilationen wohl nie versiegen dürfte.

Walburga Hülk, Romanistin an der Universität Siegen, steht eine umfassende Kenntnis der französischen Literatur zu Gebote. Gleich eingangs verweist sie auf die 20 Bände der „Geschichte der Rougon-Macquart“, jenen Romanzyklus von Émile Zola, der mit seinem Untertitel „Die Natur- und Sozialgeschichte einer Familie im Zweiten Kaiserreich“ den Anspruch des Dichters verdeutlicht, eine Epoche in ihrer Totalität zu fassen.

Paris feierte, das Land ächzte

Zolas Romanzyklus erschien allerdings erst in den beiden Jahrzehnten nach Napoleons Ende. Erst aus der Rückschau, nicht in ihrem Mitvollzug erschließt sich die Gegenwart. Hülk nun versetzt sich, ermöglicht durch die Zeugnisse ihrer Protagonisten, in die Epoche des „kleinen“ Napoleon, wie Victor Hugo ihn schmähte, doch naturgemäß im Wissen um deren Ausgang. Begonnen hatte sie verheißungsvoll. Napoleons „unerhörtestes Projekt aber war Paris“, schreibt Hülk: „In einem einzigartigen urbanistischen Gewaltakt ließ er, gemeinsam mit dem Präfekten Georges-Eugène Haussmann, die alte Stadt abreißen und eine ganz neue aus dem Boden stampfen. Diese wurde zum Labor der Moderne.“

Nur bleibt Hülk vorzugsweise an der glänzenden Oberfläche. Gewiss, sie erwähnt mehrfach die höchst einflussreichen Brüder Pereire, Émile und Isaac, nennt sie „Enthusiasten des Fortschritts und international operierende Mega-Investoren“. Aber sie bleiben im Hintergrund. Den Höhepunkt bildet die Weltausstellung von 1867, bereits die zweite in Paris nach dem Vorbild von London 1851. „Die Hure Babylon war auferstanden, und das neue Rom schmachtete in ihren Armen“, lässt Hülk dann doch etwas die Zügel schießen: „Paris feierte, das Land ächzte.“ Es geht Hülk augenscheinlich um den Effekt, das berauschte Paris der Oberschicht vor der Folie bitterer Not in seinem falschem Glanz funkeln zu lassen: „Im platten Norden des Landes schürften, klopften und hauten die Bergleute bei Tag und Nacht, auch sonntags (...).“ Und: „Wenn die Bergleute in die heiße Grube einfuhren, war es, als verschwänden sie im Schlund eines tückischen, gefräßigen Monsters ...“ Das sind Formulierungen, die auf Zolas Bergarbeiterroman „Germinal“ verweisen, „den berühmtesten Band des Zyklus über das Zweite Kaiserreich“, wie Hülk urteilt. Er erschien 15 Jahre nach dessen Untergang.

Das Projekt der Neugestaltung von Paris verliert sie aus dem Blick

Die Geschichte dreht sich bei Hülk nun einmal, warum auch nicht, um die großen Literaten der kaiserlichen Zeit, „Hugo, Flaubert, Baudelaire, Sand, die Brüder Goncourt und Zola“, wie sie gleich im Vorwort aufgezählt werden. Die Briefe, die sie einander sandten, die Tagebücher, die vor allem die Goncourt führten, die Blitze, die Hugo aus seinem Exil auf der Kanalinsel Guernsey schleuderte; die Besuche, die Auftritte, die Empfänge und Spaziergänge, sie verzeichnet Hülk in allen Details. Das sind diejenigen Passagen, die den Charme des Buches ausmachen.

Darüber verliert Hülk das eingangs beschworene Projekt der Neugestaltung von Paris etwas aus dem Blick. „Haussmanns Werk war fast vollendet, jeder erkannte die große architektonische Vision, auch wenn das Prestigeobjekt, die Garnier-Oper, noch eine Baustelle war“, heißt es etwas unvermittelt im Kapitel über die Zeit der Weltausstellung 1867. Vollendet wurde Haussmanns Werk jedoch erst viele Jahre später.

Und es gab andere neben ihm. Den Architekten Jakob Ignaz Hittorf, immerhin Erbauer der Gare du Nord, nennt Hülk einmal einen „Gartenarchitekten“, ein böser Schnitzer. Victor Baltard, Architekt der gusseisernen Hallen – immerhin Zolas „Bauch von Paris“ –, erwähnt Hülk ein einziges Mal, aber ihr entgeht die Pointe, dass sein erster Entwurf gerade nicht „zwölf lichte und transparente Pavillons“ zeigte, sondern erst aufgrund einer Intervention Napoleons dazu fand. Henri Labrouste, der Architekt der Nationalbibliothek, fehlt gänzlich, dabei überspannt der Bau seines Hauptwerks das ganze Second Empire, und die Einweihung des berühmten Lesesaals 1868 war ein Meilenstein.

Kaum eine Ära war widersprüchlicher

Dafür hat Hülk keinen Blick, sie schaut stattdessen fasziniert auf die „Skrupellosigkeit und Theatralität des Zweiten Kaiserreichs, das schon damals das ,neue Babylon‘ genannt wurde“. Wie es sich für ein Drama gehört, endet das Kaiserreich in der Katastrophe, mit dem Krieg gegen Preußen. Napoleon III., als Gefangener nach Kassel gebracht – „Ab nach Kassel!“, hätte Hülk das geflügelte Wort zitieren können –, scheidet aus der Erzählung aus, und das Nachspiel der Kommune – „die idiotische, schändliche Kommune“, wie Hülk mit Bezug auf Hugo poltert – endete in einem fürchterlichen Blutbad.

„Kaum eine Ära war widersprüchlicher als das Zweite Kaiserreich, diese merkwürdige und schrille Welt Napoleons III.“, urteilt Walburga Hülk abschließend: „Frankreichs letzter Kaiser investierte in bonapartistischen Retrokitsch und Fortschrittsspektakel, in Vergangenheit und Zukunft (...).“ Das mag so sein. Paris aber wurde unter Napoleon III. tatsächlich zum Laboratorium der Moderne, und das macht bis heute staunen.

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