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Benjamin von Stuckrad-Barre

© Julia Zimmermann/KiWi

"Panikherz" von Benjamin von Stuckrad-Barre: Gnade des zweiten Akts

Drogenbeichte, Liebeserklärung an Udo Lindenberg und Denkstück über Ruhm und Karriereabstürze: Benjamin von Stuckrad-Barres Autobiografie „Panikherz“.

Es ist ein Satz des großen, mit 44 Jahren gestorbenen amerikanischen Schriftstellers F. Scott Fitzgerald, der leitmotivisch durch Benjamin von Stuckrad-Barres Erinnerungsbuch „Panikherz“ führt: „There are no second acts in American lives“, so heißt es in Fitzgeralds letztem, unvollendet gebliebenen Roman über das Leben des Hollywood-Studiobosses Monroe Stahr, „Die Liebe des letzten Taikuns“. Stuckrad-Barres Leben allerdings ist kein amerikanisches, sondern ein typisch deutsches, mit Städtchen wie Rotenburg/Wümme und Göttingen als Herkunftsorten. Und doch ist von zweiten Akten, zweiten Lebenschancen in „Panikherz“ viel die Rede. Den eigenen Aufstieg und Fall wollte der 40-jährige StuckradBarre nicht nur „bis zum letzten Kapitel durcherleben“, sondern auch aufschreiben. Man muss dem Tod ja nicht jeden Gefallen tun.

Um das richtige Gefühl für dieses Comeback zu bekommen, hat Stuckrad-Barre sich nach Los Angeles begeben. Genauer: nach West Hollywood, ins mythenumrankte Promi- und Luxushotel Chateau Marmont, in dem schon James Dean Fenstersprünge übte, John Belushi an einer Überdosis starb, Helmut Newton nach einem Herzinfarkt mit dem Auto gegen eine Mauer fuhr und in dessen Nähe F. Scott Fitzgerald seine letzten traurigen Lebensjahre zubrachte.

Mit "Soloalbum" wurde Stuckrad-Barre zum Star der Popliteratur

So viel Glamour muss sein, wenn es um die Inspektion der weniger glamourösen Seiten des eigenen, schnellen, hektischen Lebens geht. Hier das Aufwachsen in der Provinz mit Punkbands wie den Bates und der frühe Ruhm mit Anfang 20: als Redakteur beim „Rolling Stone“ und bei „Küppersbusch“, als Pop-Schriftsteller mit Büchern wie „Soloalbum“ und „Live-Album“, als Harald-Schmidt-Gagschreiber, als MTV-Moderator. Und dort immer mehr Drogen, immer weniger Selbstschutzmechanismen und der Absturz, schön auf den Punkt gebracht mit der Anspielung auf zwei Göttinger Stadtmagazine, in denen er seine ersten Texte schrieb: „Charakter nein – Nightlife bis zum bitteren Ende – Koma. Das war der Plot für die nächsten Jahre.“

Dazu kommen: eine bulimische Essstörung, der Verdacht auf ADHS, auf eine Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung, Alkoholismus und Kokainsucht, inklusive mehrerer Klinik- und Entzugsstationenaufenthalte. Das klingt nach großer Tragik, nach viel Erzählstoff, füllt jedoch zunächst nur unzureichend ein Buch von knapp 600 Seiten. Das Drogenlebenzackzackzack, das StuckradBarre in „Panikherz“ schildert, wirkt trotz aller Schonungslosigkeit seltsam verlabert, so als sei er wirklich „hängen geblieben“. In diesen Passagen hat seine Prosa etwas hektisch Atemloses, sich Überstürzendes, und die Masche, vermeintlich wichtige Wörter in Versalien zu schreiben, um ihre Floskelhaftigkeit zu demonstrieren, bekommt etwas Lächerliches.

Was haben Pop- und Rockmusik für eine Bedeutung für die Biografie eines Menschen

Nur gut, dass der „Panikherz“-Plot noch eine zweite Hauptfigur hat: Udo Lindenberg. Als überzeugter und lebenslanger Bewohner des Hamburger Atlantic-Hotels macht er Stuckrad-Barre natürlich auch mit dem Chateau Marmont bekannt. Vor allem aber ist er Idol des Autors, nachdem einer der älteren Brüder diesen mit Panik-Udos Frühwerk bekannt gemacht hat: „Es war, als habe jemand einen Lichtschalter in meinem Kopf betätigt“.

Stuckrad-Barre schreibt dann als Reporter des deutschen „Rolling Stone“ eine Geschichte über den zu diesem Zeitpunkt nicht besonders kreativen deutschen Rock-Helden („Wir waren beide nicht in Bestform“), freundet sich mit ihm an und wird von Udo Lindenberg fortan des Öfteren wieder in die Spur gebracht. Lindenberg registriert die Drogenprobleme und Kaputtness des Jung-Popstars ohne Vatti- und Oberlehrer-Attitüden, macht ihn mit seinem „Panikdoktor“ bekannt und entwickelt sich in vielerlei Hinsicht zu einem Lebensmenschen für den runtergerockten Popschriftsteller.

Fanbuch, Liebeserklärung an Udo Lindenberg, angedeutete Biografie: „Panikherz“ erinnert an Benjamin von Stuckrad-Barres Romandebüt „Soloalbum“, das seinerzeit voller Oasis-Musik und Oasis-Zitate steckte. Nur dass dieses Mal Udo Lindenberg für jede Lebenslage eine passende Zeile parat hat und Stuckrad-Barre noch im größten Drogenwahn Lindenberg-Lyrics zu rezitieren weiß.

Seine Erinnerungen handeln also nicht zuletzt von der Bedeutung der Pop- oder Rockmusik für die Biografie eines Menschen. Und „Stuckimann“, wie Lindenberg ihn gerne nennt, stellt sich in seinem Hotelzimmer im Chateau Marmont schließlich die Frage, „was schlechter altert, man selbst oder die mit der eigenen Jugend verbundene Musik“. Die Antwort bleibt unzureichend. Als „Mann der Vergangenheit“ beschreibt der Autor sich einmal offensiv selbstkritisch, obwohl er nach dem Ende seiner Drogenkarriere ja wieder leidlich auf die Beine gekommen ist mit einer Anstellung als Autor beim Springer-Verlag in Berlin und beim ZDF mit einer Late-Night-Show. Und mit einem ersten, freilich nicht ganz so umjubelten Comeback, das er als Drehbuchautor des letzten Helmut-Dietl- Films „Zettl“ gefeiert hat.

"Und ist das nun für Blur der ZWEITE AKT?"

Auf der Gegenwartsebene von „Panikherz“ scheint Stuckrad-Barre jedoch umstellt zu sein von Figuren, die nicht nur seine Helden von einst sind, sondern ihrerseits so ihre Probleme mit der Gegenwart haben. Er begegnet Courtney Love, der Witwe des mit 27 Jahren gestorbenen Nirvana-Masterminds Kurt Cobain. Er treibt sich mit dem Schriftsteller Bret Easton Ellis herum, der keine Bücher mehr schreiben will. Und er geht mit Thomas Gottschalk zu einem Konzert von Brian Wilson, auch eine Figur mit mehr Vergangenheit als Gegenwart, ein Ruhm- und Vergangenheitsverwalter. Zudem stehen Besuche von Konzerten der Oasis-Nachfolgeband High Flying Birds und von Blur auf Stuckrad-Barres Hollywood-Agenda.

„Und ist das für Blur nun der ZWEITE AKT? Das Comeback nach jahrelangem Streit – oder ist es noch immer der erste, und der erste Akt also ein Gefängnis?“, fragt sich Stuckrad-Barre nach dem Blur-Konzert anlässlich deren Comeback-Album „The Magic Whip“, um weitere Gedanken folgen zu lassen über den Umgang mit dem frühen Ruhm und den Schwierigkeiten, diesen im Alter zu bestätigen, immer auch vor dem Hintergrund medialer Erwartungen – letztendlich sein ureigenes Thema. In diesen HollywoodPassagen läuft Stuckrad-Barre zu großer Form auf, sie gehören neben der Beschreibung der Erlebnisse und Begegnungen mit Udo Lindenberg zu den besten des Buchs.

Trotzdem hat man manchmal den Eindruck, dass sich "Stuckimann" schon auch in seinem Offenbarungseifer gefällt - und natürlich darin, mit Gottschalk, Ellis und Co. unterwegs und befreundet zu sein. Zudem fragt man sich, was denn eigentlich seine Meriten als Künstler sind, was sein Frühwerk ausmacht, gerade im Vergleich zu den Genannten.  Ein guter Reporter, klar, Popschriftsteller, okay, aber mehr Pop als Schriftsteller, dann noch Entertainer, Ideenproduzent, Fernsehnase, nun denn. Und jetzt auch noch: Rock ’n’ -Roll-Überlebender, der mit „Panikherz“, um im Bild früherer Stuckrad-Barre-Buchtitel zu bleiben, nach der Reunion mit sich selbst ein weiteres Comeback feiert.

Nur besteht die Tragik dieses zweiten Akts, den zu erleben Stuckrad-Barre vergönnt ist, darin, dass es dafür des übermäßigen Drogenkonsums einfach bedurfte. Sonst hätte es nicht genug zu erzählen gegeben, wäre der Stoff, aus dem das Stuckrad-Barre-Leben besteht, etwas dünn gewesen. Ein Buch wie „Panikherz“ schreibt man jedenfalls nur einmal.

Benjamin von Stuckrad-Barre: Panikherz. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016. 576 Seiten, 19,99 €.

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