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Alex Wheatle, Jahrgang 63, lebt in London.

© Walter White

Packendes Jugendbuch: Weiß, schwer vermittelbar

Einmal Heimkind, stets heimatlos: Alex Wheatle erzählt in „Home Girl“ von einem zornigen Mädchen, das bei schwarzen Pflegeeltern unterkommt.

Die Holmans, die Hamiltons – und jetzt noch die Goldings. Kennste eine Pflegefamilie, kennste alle, denkt sich Naomi. Sie ist 14 und so abgebrüht, wie eine Halbwaise sein muss, deren Vater noch dazu Säufer ist. Ihre Sehnsucht, ein neues Zuhause zu finden, hat sich schon so oft zerschlagen.

„Ist nicht meine Schuld, dass du mich immer nur zu Freaks und Fummlern schickst“, blafft sie Sozialarbeiterin Louise an, die sie bei den Holmans abholt. Die nähmen seit 20 Jahren Kinder auf und nie habe es Klagen gegeben, entgegnet ihr die frustrierte Louise.

Naomi weiß, welche Knöpfe sie drücken muss

Da muss erst Naomi kommen, um den Vater als pädophilen Spanner zu enttarnen. Falls er das ist. Naomi weiß – angestachelt von Kim und Nats, ihren Freundinnen im Heim – genau, welche Knöpfe sie drücken muss, um im Fürsorgebetrieb die Alarmglocken schrillen zu lassen.

Fast scheint es, als habe Autor Alex Wheatle Nora Fingscheidts Drama „Systemsprenger“ im Kino gesehen, bevor er den in Großbritannien bereits im vergangenen Jahr erschienenen Jugendroman „Home Girl“ schrieb. Film und Buch eint ein verzweifelt ungeschminkter Blick auf die Kinderfürsorge, der trotzdem ein Quäntchen Hoffnung erlaubt.

Und eine schwer vermittelbare Heldin, deren Energie, Wut und Vorwitz für zehn reichen. Überhaupt schlägt sich die Hoffnung in „Home Girl“ bei aller Heillosigkeit, die die Odyssee durch Ersatzfamilien und „Sondereinrichtungen“ mit sich bringt, vor allem in den glaubwürdigen Charakterzeichnungen nieder.

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Alex Wheatle wurde 1963 als Sohn jamaikanischer Eltern geboren und ist selbst im Kinderheim groß geworden. Nach den sozialen Unruhen in Brixton, Anfang der achtziger Jahre, saß er einige Zeit im Knast, hat dort zur Literatur gefunden und seine Erfahrungen als schwarzer Brite und Fürsorgezögling seit 1999 in mehreren Jugendromanen verarbeitet.

Die mit allen Tricks der Kids vertraute Sozialarbeiterin Louise beispielsweise, die ernsthaft an ihrem Schützling interessiert ist, stattet er mit einer stimmigen, unheroischen Mischung aus Lakonie, Autorität und Wärme aus.

Die Geschichte der Ich-Erzählerin Naomi flankiert ein kursiv gedruckter, packender Gedankenstrom, in dem sich Flüche, Stoßseufzer, Kommentare und Hoffnungen sammeln. Und in dem durch Flashbacks, die die Tagträumerin immer wieder überfallen, die Härte von Naomis Kindheitsträumen offenbar wird.

Mutters Selbstmord, Vaters Sauferei

Der Selbstmord der Mutter, die sie mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Badewanne findet. Die Alkoholsucht des hilflosen Vaters, den Naomi säubert und bekocht. Die Stärke von „Home Girl“ ist, dass diese in Minidosierungen erzählten Dramen nur als abgründige Grundierung von Naomis quicklebendiger Gegenwart fungieren.

Der flapsige, mit Worterfindungen gespickte Slang, den die von Grime und Streetdance begeisterte Naomi denkt und spricht, fällt in der Übersetzung gelegentlich etwas holprig aus. Zigaretten nennt Naomi gern „Cancersticks“, woraus in der deutschen Ausgabe der umständliche Begriff „Krebslutscher“ wird.

Teenagersprache in lässig klingende Literatur zu verwandeln ist eine ewige Herausforderung. Von der Übersetzung ganz zu schweigen. Nette Stilblüten wie „Meine Nerven zischen wie Würstchen auf einem hoch gedrehten Gaskocher“ heben dafür den Sympathiefaktor.

[Alex Wheatle:  Home Girl. Roman. Aus dem Englischen von Conny Lösch. Verlag Antje Kunstmann, München 2020. 280 Seiten, 18 €. Ab vierzehn Jahren]

Apropos Sympathie. Die aus der Not geborene Idee der Sozialarbeiterin, Naomi bei Colleen und Tony Golding unterzubringen, ist der bockigen Naomi zur Abwechslung mal sympathisch. „Eine schwarze Familie. Definitiv cooler als die Holmans“, denkt sie. „Vielleicht würden sie mich sogar kiffen lassen. Und die Mutter könnte mir Zöpfchen flechten, wie Solange Knowles welche hat.“ Das mit den Zöpfchen klappt tatsächlich.

Ansonsten entpuppt sich die neue Pflegefamilie, in der mit Sharyna und Pablo schon zwei Adoptivkinder leben, keineswegs als Klischeebilderbuch. Fast zu schön, um wahr zu sein, wie gut Naomi mit den neuen Geschwistern und der Pflegemutter klarkommt.

Auch mit Tony läuft es nach anfänglichem Kräftemessen rund. Das ist eine zu absehbar geschilderte Annäherung. Aber dann bläst Naomi durch Tonys Vater, der keine weiße Pflegeenkelin akzeptiert, ein feindseliger Wind entgegen. So schlicht gerät es doch nicht – das antirassistische Happy End.

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