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Unvergleichlich: Der Tempel der Hatschepsut am Westufer des Nils in Theben.

© Christoph Niedermeier

Overtourism-Wahnsinn: Der Kultur-Tourismus stößt an seine Grenzen

Overtourism ist das Reizwort der Stunde. Der Massenansturm lässt besonders die Kulturinteressierten unter den Urlaubern verzweifeln.

Nein, nach Venedig kann man eigentlich nicht mehr fahren! Zu viele Leute da. Ebenso wie in Barcelona. Und in Paris. Und in Dubrovnik, London, Rom, Florenz, Oxford, Salzburg, Prag. Also überall da, wo herrliche Baudenkmäler locken, einmalige Schlösser, Kirchen, Museen. Kurz, wo sich die Kunstgeschichte des alten Europa erleben lässt.

Overtourism ist das Reizwort der Stunde. Alle reden von Flugscham – trotzdem steigen die Passagierzahlen an den Airports ungebrochen immer weiter. Die Sehnsucht nach der Fremde ist für die allermeisten eben doch größer als das individuelle Umweltbewusstsein. Und natürlich hat es auch etwas Zwiespältiges, dieses Lamentieren über den Boom des urbanen Sightseeings.

Weil es sich ja eigentlich um einen positiven Demokratisierungsprozess handelt. Immer mehr Menschen haben die Möglichkeit, die herausragendsten Kunstwerke des Planeten leibhaftig zu erleben. Chinesen natürlich, außerdem die neuen Mittelschichten aus den Schwellenländern oder auch Menschen, die lange hinter eisernen Vorhängen leben mussten.

Sollen die nicht alle die Laokoon-Gruppe in den Vatikanischen Museen bewundern dürfen und die Sixtinische Kapelle? Doch natürlich. Nur müssten die Verantwortlichen bei der Kunstsammlung des Papstes auch mal daran denken, dass dazu eine gewisse Bewegungsfreiheit vonnöten ist.

Leider aber haben sie es ausschließlich darauf abgesehen, möglichst viele Tickets zu verkaufen. So dicht war der Strom der Besucher bei unserem letzten Besuch, dass es sich als unmöglich herausstellt, vor einem bestimmten Kunstwerk überhaupt stehen zu bleiben, geschweige denn, sich in seine Schönheiten zu versenken.

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Wie Magma wälzt sich die Masse vorwärts, Reiseführer, die in Headphones sprechen, laufen rückwärts, Touristengruppen mit Kopfhörern auf den Ohren trotten hinterdrein. Der Strom der Körper spült den Einzelnen weiter, ohne Zwischenhalt bis zum Museumsshop. Hier kann man mehr oder weniger gute Reproduktionen der Artefakte erwerben, deren Betrachtung einem zuvor unmöglich war. Dio mio!

Immer wieder ist der Blick auf die Kunst verstellt

Je grenzenloser die Mobilität wird, desto voller ist es eben auch an den Hotspots der Historie, desto mühevoller gestaltet sich die Beschäftigung mit dem kulturellen Erbe für alle, die die Zeugnisse genialer Kreativität und Innovationskraft nicht nur flüchtig betrachten, sondern ihnen wirklich nahekommen wollen. Weil der Blick darauf von unzähligen Leibern verstellt ist.

Zur rein physischen Barrikade kommt noch eine psychische. Hinschauen erfordert Konzentration. Und kostet Zeit. Wo aber Millionen im Sightseeing-Schnelldurchlauf unterwegs sind, hat das Individuum keinen Raum. Einem Großteil der Reisenden ist das egal. Weil sie Trophäenjäger sind, Wahrzeichen sammeln wie Statussymbole. Ihnen geht es ums Sehen und Gesehenwerden. Wobei sich das Sehen zumeist im Fotografieren erschöpft – Hauptsache, sie können dann in den sozialen Medien vorführen, was sie gerade Tolles erlebt haben.

Wo kann man also überhaupt noch hinfahren als kulturhungriger Reisender, der im Urlaub etwas mehr machen will, als alle Viere von sich zu strecken oder durch die Natur zu wandern? Nach Ägypten? An den paradiesischen Ufern des Nils ist derzeit wenig los. Mögen sich an den Stränden des Roten Meers die Touristenzahlen wieder normalisiert haben, die Klientel der klassischen Nil-Kreuzfahrten bleibt weiterhin zurückhaltend. Wer seine bildungsbürgerliche Ängstlichkeit aber überwindet, kann die Tempel der Pharaonen auf eine Weise genießen wie einst Hercule Poirot bei Agatha Christie. Mit viel Platz zwischen den Säulen nämlich und einem freiem Blick auf die atemberaubenden Artefakte.

Wo kommt mein Geld an? Vor Ort oder bei den Oligarchen?

Wenn da nicht dieser Zweifel wäre: Kommt das Geld, das ich hier lasse, wirklich den Menschen vor Ort zugute oder doch wieder nur den Oligarchen des Landes und den globalen Touristikkonzernen? Ja, darf man überhaupt in so ein Land fahren, unterstützt man damit nicht das repressive Regime in Kairo?

Die Grand Tour, die viele Monate, manchmal gar Jahre dauernde Bildungsreise durch Europas Hochkulturregionen, war einst ein Privileg des Adels. Den sich seit Goethes Zeiten dann auch ein glücklicher Teil des Bürgertums erarbeiten konnte. Nicht selten wurden diese ausgedehnten Auszeiten zum Selbsterfahrungstrip, der Lebensentwürfe veränderte.

Der moderne Arbeitnehmer dagegen kann sich nur kurze Ferien erlauben, zwei Wochen in der Toskana vielleicht mit intensivem Studium der Renaissance-Schönheiten, eine Fahrt zu den Schlössern der Loire, Streifzüge durch Gärten und Herrenhäuser in Englands Süden. Kein Wunder, dass ihn an den Zielen seiner ästhetischen Sehnsucht dann all jene Mitbesucher zur Verzweiflung treiben, die nur da sind und gar nicht richtig hinschauen.

Das Belvedere in Wien hatte eine Idee, die man brillant nennen kann oder zynisch. Den berühmten „Kuss“ von Gustav Klimt gibt es in dem Museum doppelt: In einem Raum mit viel Tageslicht hängt eine Replik – für alle, die sich davor fotografieren wollen. Dadurch verstellen sie jenen, die das Authentische zu schätzen wissen, nicht länger den Blick aufs konservatorisch dezent beleuchtete Original im Saal nebenan.

Venedig, Barcelona, Berlin sind selbst schuld am Overtourism

Ihren Teil zum Overtourism-Wahnsinn haben natürlich auch die mit einmaligem Kulturerbe gesegneten Städte beigetragen: Wer ein Kreuzfahrt-Terminal baut, darf anschließend nicht jammern, dass Schiffsgäste die Gassen verstopfen. Irgendwer im Rathaus muss das Projekt ja abgesegnet haben. Oder die Erlaubnis erteilt, fotogene Gemäuer als Schauplätze für Fantasy-Blockbuster zu mieten, die dadurch zu instagramable destinations werden, die jeder Fan unbedingt auch selber sehen will.

So wie einst Mallorca den Bau von Hotelburgen östlich der Hauptstadt forcierte, aus denen sich dann der Ballermann entwickelte, sind auch Venedig, Dubrovnik, Barcelona und Berlin nicht unschuldig an den Zuständen, die dort heute herrschen. Ganz zu schweigen vom eintrittsgeldgierigen Vatikan.

Welche Hoffnung also bleibt dem von Fernweh geplagten Kunstliebhaber? Die Off-Season, die wenigen Wochen zwischen den Ferienzeiten. Die Suche nach Plätzen, die historisch Wertvolles bieten, aber noch abseits der Massentourismus-Trampelpfade liegen. Eine gute Vorbereitung, die intensives Erleben vor Ort ermöglicht, eine genussvolle Nachbereitung des Gesehenen zu Hause. Und nach den geistigen Anregungen, nach den von Fachleuten geführten Besichtigungen und Aha-Momenten in den Monumenten: im Café sitzen und die Passanten beobachten.

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