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Asa Butterfield als Hugo Cabret in Martin Scorseses gleichnamigem 3D-Spektakel.

© Paramount

Oscars 2012: Rolle rückwärts, Rolle vorwärts

Am Sonntag werden die Oscars verliehen. Die Favoriten "Hugo Cabret" und "The Artist" huldigen den Anfängen des Kinos. Überlegungen zur angeblichen Nostalgiewelle auf der Leinwand.

Ein Tänzer schwebt zwischen Leinwand und Parkett, der Raum (und damit auch die Zeit) wirkt zugleich vergrößert und geschrumpft. Eine Traumerscheinung. Eine Stadt-Achterbahn fliegt durch schmale Häuserschluchten, und man denkt: Wuppertal, Wahnsinn! Ein Gesicht stülpt sich nach vorn, die Visage eines Polizisten, der bedrohlich seine Beißer bleckt. Ein Zug rast in den Bahnhof, und man ahnt es erst und hat im nächsten Augenblick Gewissheit: Der Zug kann nicht bremsen, hier kommt es zu einem fürchterlichen Unfall, einem historischen Ereignis, und aus der nicht mehr aufzuhaltenden, immer plastischer werdenden Katastrophe wird ein Postkartenmotiv geboren. Das surreale Bild des Gare Montparnasse in Paris, aus dessen Fassade eine zerbrochene Eisenbahn hängt ...

Es handelt sich um Szenen aus „Pina“ von Wim Wenders und Martin Scorseses „Hugo Cabret“. Beide Filme sind in 3-D gedreht, beide sind nominiert für die Oscars, die am Sonntag in Los Angeles im Kodak Theatre vergeben werden. And the loser is: Kodak. Die altehrwürdige Firma, mit deren Namen sich weltweit die fotografischen Erinnerungen von Generationen verbinden, ist bankrott. Viele glauben aber auch, das Kino selbst sei der Verlierer, schon vor der Oscar-Zeremonie.

Scorsese erzählt ein Märchen von Waisenkindern, ein Kunst-Märchen aus den Kindertagen des Films, als das neue Medium noch als Außenseiter galt, als billige Träumerei, jedenfalls aus der Sicht des damals noch dominanten Theaters. „Hugo Cabret“ feiert in einer rauschhaften Hommage Georges Méliès (1861–1938), den Erfinder des fantastischen Kinos, den ersten Autorenfilmer überhaupt. Auch Wim Wenders huldigt einer Legende, der 2009 gestorbenen Choreografin Pina Bausch.

Also nichts Neues, nur Nostalgie allerorten? „Hugo Cabret“ ist in elf Oscar-Kategorien nominiert, „The Artist“ von Michel Hazanavicius in zehn. Ein Stummfilm! In Schwarz-Weiß! Auch der französische Regisseur erzählt ein Märchen: wie ein alternder Stummfilmstar, dessen Karriere der Tonfilm jäh beendet, durch die Liebe und Loyalität einer jungen Schauspielerin gerettet wird. Auch die Anhänglichkeit eines schlauen Terriers spielt eine Rolle – Riesenkitschverdacht! David Denby sieht es im „New Yorker“ mit einem weinenden und einem zuckenden Auge: „The Artist“ sei süßlich und nett, sicher gut gemacht, der Film könne aber keinesfalls an die Eleganz und Radikalität der Stummfilm-Originale heranreichen. Das gelinge Scorseses „Hugo Cabret“ schon eher.

Was Denby und manch anderer Kritiker übersieht: „The Artist“ spielt nicht nur in der Film-, sondern auch in der Weltwirtschaftskrise. Es ist ein Depressionsfilm, mit etlichen Bezügen zu unserer Gegenwart. Depression und Rezession fördern das Unterhaltungsgenre, und auch dieses kann innovativ sein. Die vermeintliche Retro-Welle erreicht uns also jetzt vor der eigenen Haustür. Und das Kino ist auch nicht mehr so jung, als dass es immerzu Neues produzierte. Es ist bedroht durch digitale Medien und Distributionswege, ähnlich wie es einst das Theater (und den Stummfilm) traf, als erst die Kamera und später das Mikrofon in Betrieb gesetzt wurden. „Hugo Cabret“ wie „The Artist“ sind Selbstvergewisserungen, archäologische Arbeiten des Kinos: vollkommen neue Kreationen, aus historischer Kenntnis, mit der Technologie des 21. Jahrhunderts.

3-D-Filme gab es übrigens erstmals in den fünfziger Jahren. Die Filmtheater waren in der Krise, sie wollten dem aufkommenden Fernsehen etwas Spektakuläres entgegensetzen. Aber die Technik war nicht ausgereift, damals verursachte die Brille noch mehr Kopfschmerzen als heute. Von Anfang an ging es im Kino um die perfekte Illusion: Als die Gebrüder Lumière 1895 den einminütigen Film „L’arrivée d’un train à La Ciotat“ vorführten, erlebten die Zuschauer einen Schock und sprangen auf. So etwas hatten sie noch nie gesehen. Auch ohne 3-D-Brille glaubten sie, dass der Zug auf sie zuraste. 3-D avant la lettre – und überdies zeigt Scorsese, wie der Franzose Méliès seine filmischen Fantasien aus alten Theaterkulissen schuf. Die dritte Dimension war immer schon da. Man muss sie sich nur immer aufs Neue vergegenwärtigen.

Was heißt eigentlich altmodisch?

„Pina“, Wim Wenders’ Hommage an die 2009 gestorbene Choreografin Pina Bausch, geht als Dokumentarfilm ins Rennen. Hier eine Szene mit Thusnelda und Dominique Mercy.
„Pina“, Wim Wenders’ Hommage an die 2009 gestorbene Choreografin Pina Bausch, geht als Dokumentarfilm ins Rennen. Hier eine Szene mit Thusnelda und Dominique Mercy.

© Neue Road Movies

Was das Kino da macht, ist in anderen Medien selbstverständlich und kaum Ausweis konservativer, anti-zeitgenössischer Haltung oder Technik. Umberto Ecos jüngstes Buch „Der Friedhof in Prag“ erfindet sich ein 19. Jahrhundert, mischt Historisches mit historischen Fälschungen, er schreibt Geschichte neu. Radikaler noch geht David Mitchell in seinem 2004 erschienenen Roman „Der Wolkenatlas“ vor. Er schlingt weitgehend fiktionale Lebensgeschichten über Kontinente und Jahrhunderte ineinander. Das Werk wurde gerade von Tom Tykwer und den Wachowski-Brüdern verfilmt. „Der Wolkenatlas“, in Babelsberg gedreht, gilt mit 100 Millionen Euro als die teuerste deutsche Filmproduktion aller Zeiten.

Was heißt eigentlich altmodisch? Ist Gerhard Richter ein altmodischer Maler, weil er gegenständlich malt und sich auf die romantische Tradition bezieht, Caspar David Friedrich vor allem? Ist Umberto Eco mit seinen 80 Jahren von gestern, weil er postmoderne Romane schreibt, während die Postmoderne schon längst wieder passé ist? Es gibt keine Weltzeituhr mehr, die verbindlich das Ticken von Tradition und Avantgarde, in und out vorgibt. „Hugo Cabret“ lässt die Uhrwerke rasseln, rattern, sich in alle Richtungen drehen, ein chaotischer Maschinenraum für den Globus.

Ein Tschechow gehört im Theater zum Repertoire, ein Wagner in der Oper. Im Film dagegen hat das Wort Remake immer einen Beigeschmack. Das Alte, das ist das Vorhandene. Es war immer da, durch Internet und Datenbanken ist es jetzt vorhandener, präsenter denn je. Ein George Méliès aber war schon zu Lebzeiten vergessen, erst vor seinem Tod wurde er wiederentdeckt. Daran erinnert Scorsese: dass wir ein Gedächtnis brauchen, ein emotionales Gedächtnis, um Gegenwart zu verstehen. Sein Film basiert auf einem Buch von Brian Selznick aus dem Jahr 2007. „Die Entdeckung des Hugo Cabret“ ist halb Comic, halb Roman. Fiktion, die auf Fakten beruht, vergessenen Geschichten und Abenteuern. Das mag nun Zufall sein, aber Selznick war einmal ein großer Name in Hollywood. David O. Selznick, einer der erfolgreichsten Filmproduzenten überhaupt, war oft für einen Academy Award nominiert. 1940 gewann er den Oscar für „Vom Winde verweht“.

Vor zwei Jahren konnte Fritz Langs „Metropolis“ auf der Berlinale in restaurierter Fassung gezeigt werden; in Argentinien waren fehlende Teile des epochalen Stummfilm-Meisterwerks von 1926 aufgetaucht. Was war dieses Wiedersehen und zum Ersten-Mal-Sehen für ein Schock: Vom Wagner’schen Gesamtkunstwerk zur faschistischen Ästhetik bis hin zum „Blade Runner“: Was da alles wimmelt, sich abzeichnet! Fritz Lang ist uralt, aber niemals altmodisch.

Im Zeitalter der technischen und künstlerischen Neuerfindung scheint alles möglich. Selbst eine Schwester der Mona Lisa ist jetzt plötzlich in Madrid aufgetaucht, und ihre Echtheit wäre vor ein paar Jahrzehnten mit den damaligen Apparaten kaum zu beweisen gewesen. Ähnlich verhält es sich mit den Tonaufnahmen des früheren Reichskanzlers Otto von Bismarck durch Edisons Phonographen, die kürzlich Schlagzeilen machten. Wir leben in einer Zeit, die angesichts der gigantischen Beschleunigung des Waren- und Informationsaustauschs gern einmal innehält; und sei es für eine Nacht in Los Angeles.

Dass George Clooneys brillantes, knochenhartes politisches Kammerspiel „The Ides of March“ im Jahr der amerikanischen Präsidentschaftswahlen nicht in der Königsdisziplin „Bester Film“ nominiert wurde, ist übel und unverständlich. Nur reicht das nicht, um Hollywood Vergangenheitssucht zu unterstellen, gar Wirklichkeitsflucht. Das Kino kam auf die Welt, um Wirklichkeit zu erhöhen, zu überblenden – Méliès hatte als Magier im Theater begonnen. Etwas von diesem magischen Zauber liegt immer auch über den Oscar-Zeremonien und dem Nobelpreis, diesen Ritualen von gestern. Umso mehr stürzt sich die Welt auf die Inszenierung eines Scheins, der nicht verblassen will.

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