zum Hauptinhalt
Daniel Kaluuya, Chadwick Boseman, Youn Yuh-jung und Viola Davis (v. li.) haben gute Aussichten auf einen der Darsteller:innen-Preise.

© AFP

Oscar-Verleihung 2021: Hollywood ist wieder da

Die Kinos waren fast ein Jahr geschlossen, aber die Oscar-Favoriten sind so vielfältig wie nie zuvor. Die Live-Zeremonie am Sonntag soll auch eine Rückkehr zur Normalität sein.

Von Andreas Busche

Die liberale Hollywood-Blase ist eine beliebte Zielscheibe des kulturkonservativen Comedian und Talkshow-Hosts Bill Maher. Vor zwei Wochen, die Kinos hatten in Kalifornien gerade wieder geöffnet, konnte er sich einen Kommentar zur bevorstehenden Oscar-Verleihung nicht verkneifen. Das ganze Land freue sich auf eine Rückkehr zur Normalität, motzte er, auf der Leinwand vermöbeln sich Godzilla und King Kong im Celebrity Death Match – und die Oscars schieben Depressionen.

Nominiert seien in diesem Jahr unter anderem: Ein Film über eine Frau, die nach dem Tod ihres Mannes in einem Wohnmobil lebt. Gleich zwei Filme, in denen das FBI den Anführer der Black Panther tötet. Ein Film über eine Frau, die sich an einem Vergewaltiger rächt. Ein Film über einen Musiker, der sein Gehör verliert. Und ein Film über arme koreanische Immigranten in Arkansas. Kann sich Hollywood nur gut fühlen, wenn es uns ein schlechtes Gewissen macht?

Das ist eine mögliche Lesart der 93. Oscar-Verleihung, die Sonntagnacht in Los Angeles und pandemiebedingt erstmals auch (für die vielen europäischen Nominierten) in London und Paris stattfindet. Eine andere könnte lauten: Die diesjährigen Oscar-Favoriten sind ein frappierend realistisches Spiegelbild der amerikanischen Gegenwart zwischen dem gerade beendeten Prozess um die Ermordung des Afroamerikaners George Floyd und anhaltenden Diskussionen über Polizeigewalt, dem größten sozialen Konjunkturpaket seit Franklin D. Roosevelt und dem Ringen um eine moderne Einwanderungspolitik (in dem Joe Biden momentan keine gute Figur abgibt).

Die Oscars als Spiegel amerikanischer Gegenwart

Und noch etwas ist auffällig: Die Demografie der Academy of Motion Picture Arts and Sciences, die die Oscar-Verleihung ausrichtet, ähnelt nach einer umfassenden Mitgliederreform vor drei Jahren zunehmend der amerikanischen Gesellschaft. Dazu reicht schon ein kurzer Blick auf die Nominierten: Frauen und People of Color sind in allen Hauptkategorien zahlreich vertreten.

Und wie schon im vergangenen Jahr findet sich mit “Minari – Wo wir Wurzeln schlagen” unter den Nominierungen für den besten Film auch ein Beitrag, in dem Koreanisch gesprochen wird. Möglicherweise war der Triumph von Bong Joon-hos "Parasite" also kein Ausreißer, sondern erstes Anzeichen für einen Wandel. Die liberalen Schneeflocken in Hollywood scheinen sich nach unermüdlichen MeToo- und OscarsSoWhite-Protesten endlich durchgesetzt zu haben.

Wenn es denn noch eines Beweises bedarf, dass Diversität wenig mit “Identitätspolitik” zu tun hat, sondern schlicht ein Qualitätskriterium darstellt, liefert diesen die Liste der diesjährigen Kandidaten, die die spannendsten Oscars seit einer gefühlten Ewigkeit verspricht. Das Nominiertenfeld ist nicht nur vielfältig, sondern auch qualitativ so überzeugend wie schon lange nicht mehr.

Wozu auch die Streamingproduzenten, die nach fast einem Jahr ohne Kinos die klassischen Filmstudios immer stärker in Bedrängnis bringen, ihren Teil beitragen. Mit dem Favoriten “Mank” von David Fincher, dem Musik-Biopic “Ma Rainey's Black Bottom”, “The Trial of the Chicago 7”, “Pieces of a Woman” (alle Netflix), “One Night in Miami”, “Sound of Metal” und dem “Borat”-Sequel” (alle Amazon) haben die beiden Streamingriesen insgesamt 47 Nominierungen eingesammelt.

Hollywood trotz der Übermacht von Netflix

Da ist es umso bemerkenswerter, dass auch die Studios, die sich nicht zuletzt dank der neuen Oscar-Regularien (erstmals reicht in diesem Jahr ein digitaler Plattformstart, um nominierungsberechtigt zu sein) von den Kinos immer unabhängiger machen, mit starken Filmen vertreten sind. Chloé Zhaos inzwischen mehrfach ausgezeichnetes Gesellschaftsdrama “Nomadland” (Disney), die bitterböse feministische Rape-Revenge-Tragikomödie “Promising Young Woman” (Universal) und das Black-Panther-Biopic “Judas and the Black Messiah” (Warner) haben realistische Chancen, der schieren Übermacht der Streaming-Konkurrenz zu trotzen.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Doch auch wenn die US-Filmindustrie unter der Pandemie qualitativ nicht gelitten hat, steht sie zunehmend unter wirtschaftlichem Zugzwang. Blockbuster, von deren Milliardenumsätzen die Studios abhängig sind, werden geschoben. Auch der Widerstand gegen Netflix bröckelt, weil inzwischen viele Hollywood-Akteure wie etwa ein George Clooney – dessen Science-Fiction-Film “The Midnight Sky” die Academy brüsk ignorierte – mit dem Streamer arbeiten.

[Wenn Sie die Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Es ist kaum anzunehmen, dass es nach der Etablierung von Day-and-Date-Veröffentlichungen während der Pandemie (Kinostarts parallel zum digitalen Video-on-Demand-Angebot), woran Studios wie Disney und Warner nicht ganz unbeteiligt waren, wieder ein Zurück gibt; auch die Ausnahmeregel, dass Filme ohne Kinostart Oscar-berechtigt sind, wird langfristig vermutlich bestehen bleiben.

The Show must go on

Auch darum muss die Academy in diesem so schwierigen Jahr nach außen gute Miene zum bösen Spiel zeigen. Die Vehemenz, mit der die Veranstalter auf eine Live-Zeremonie vor Publikum drängten, soll zeigen, dass man sich den Spaß nicht verderben lassen möchte. So stieß auch die Ankündigung der Academy, dass man die Preise nur anwesenden Personen übergeben würde, hinsichtlich der immer noch kritischen Covid-Situation in Kalifornien auf Kritik. Doch scheinbar sind Zoom-Calls im Kapuzenpullover (wie kürzlich noch bei den Golden Globes) der Würde der Oscars abträglich.

So werden am Sonntag 170 Gäste an den beiden Veranstaltungsorten im historischen Dolby Theater und der Eingangshalle der Union Station in Los Angeles zugelassen sein: durchgetaktet in engen, penibel festgelegten Zeitfenstern. Die Oscar-Bühne wird zum Boulevardtheater mit rotierender Tür: Schnelltest, links rauf, rechts wieder runter. Und auch wenn der rote Teppich sehr kurz ausfallen wird und nur eine Handvoll Journalist:innen zugelassen ist, legen die Veranstalter wert auf einen formalen Dresscode; eine Mischung aus "inspiriert und ambitioniert", wie es in einer Presseerklärung aufmunternd heißt. Damit hätte die Veranstaltung auch gleich ein hübsches Motto.

Weil das Los Angeles County der Oscar-Zeremonie vergangene Woche den Status einer Filmproduktion bewilligte, müssen die Gewinner:innen vor der Kamera auch keine Masken tragen. Obwohl Masken, so versprach Regisseur Steven Soderbergh, der die Oscar-Show produziert, bei der Verleihung ein wichtiges Motiv sein werden. Die amerikanische Filmbranche möchte der immer noch skeptischen Kino-Öffentlichkeit eine Rückkehr zur Normalität vorspielen. Im Gegenzug kündigt Soderbergh eine filmreife Dramaturgie an. The Show must go on!

Problem: Niemand kennt die Oscar-Filme

Die Aufgeregtheit kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Oscars trotz einer sich langsam internationaler ausrichtenden Mitgliederstruktur in einer Krise stecken. Seit die Verleihung ohne Moderation auskommt, in diesem Jahr schon zum dritten Mal, lässt das Interesse an dem Fernseh-Event sukzessive nach. Es hilft auch nicht, dass die Mehrheit der Amerikaner:innen in diesem Jahr mit Titeln wie "Mank", "Nomadland", und "Judah and the Black Messiah", allesamt klassisches Arthouseskino, wenig anfangen können. In einem normalen Jahr wäre ein Film von David Fincher wohl eine Riesensache gewesen.

Die Academy hatte schon immer ein Faible für kleinere Filme (der letzte Blockbuster, der abräumte, war "Titanic"), doch in einem Kinojahr, das praktisch nur in den heimischen vier Wänden stattfand, fehlt eine Öffentlichkeit, die Aufmerksamkeit und Euphorie erzeugt. Vor einigen Wochen fand eine repräsentative Umfrage unter 1500 Filmfans heraus, dass nur 18 Prozent den für zehn Oscars nominierten "Mank" kennen - oder gar von ihm gehört haben. Die Filme, die (kurz) im Kino liefen, schneiden nur unwesentlich besser ab. Selbst "Tenet", den einzigen Blockbuster unter den diesjährigen Nominierten, kennen nur 46 Prozent.

Das Kino muss nach einem Jahr im Lockdown wieder Werbung für sich machen. Es wirft sich in Schale, raus aus Schlabberpulli und Jogginghose. Die Oscars könnten am Sonntag der Ort sein, an dem man sich wieder erinnert, was uns an der Kino-Erfahrung als sozialem Event gerade fehlt. Zumindest mit Blick auf die Nominierten sieht es nach einem guten Jahr für die Rückkehr des Kinos aus.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false