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Der Organist Cameron Carpenter vor einem Seniorenheim in Berlin-Spandau.

© Christoph Soeder/dpa

Orgelstar spielt für Senioren: Cameron Carpenter tourt durch Berlin

Bis Samstag spielt der Berliner Organist Cameron Carpenter vor 26 Pflege- und Obdachloseneinrichtungen in Berlin. Eine Impression vom Auftakt.

Der Truck fällt auf. Er gehört irgendwie nicht hierher. Hier, vor das Senioren- und Seniorinnenwohnheim John F. Kennedy in Wittenau.

Aber was ist schon normal in diesen Wochen und Monaten? In denen ältere und pflegebedürftige Menschen mehr als sowieso in ihren Mauern, ja doch, eingesperrt, sind?

Je 20 Minuten auf der Ladefläche

Ihnen wenigstens eine kleine Freude zu bereiten, sie spüren zu lassen, dass sie nicht vergessen sind, das hat sich der 39-jährige amerikanische Organist Cameron Carpenter vorgenommen. Er lebt in Berlin, tritt in der Philharmonie auf, war Artist in Residence im Konzerthaus.

Jetzt spielt er bis Samstag vor 26 Pflege- und Obdachloseneinrichtungen je 20 Minuten auf der Lkw-Ladefläche, auf einer elektronischen Viscount-Orgel. Bis zu neun Termine am Tag: Ein Mammutprogramm.

Hier, in Wittenau, ist die dritte Station. Das Programm ist klar: „All you need is Bach“, so heißt Carpenters jüngstes Album. Sein Publikum hat sich hinter den Fenstern versammelt, im Rollstuhl, stehend, auch die Pflegekräfte hören zu.

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Carpenter, der an der New Yorker Juilliard School studiert hat, steht nicht in der Tradition spiritueller Kirchenmusik. Seine Interpretationen sind griffig und handfest, dabei aber immer höchst virtuos. Es geht ihm nicht darum, ein höheres Wesen zu ehren, sondern den Facettenreichtum der Orgel freizulegen.

Würde man ihm sagen, er trete auf wie ein queerer Popstar, hätte er sicher nichts dagegen. An diesem Mittwoch gibt er sich aber bescheiden, ein Diener der Musik. Zehn Minuten Fuge in G-Dur BWV 577, dann noch mal zehn Minuten lang fünf Variationen aus den Goldberg-Variationen.

Dankbarkeit: So klingt live gespielte Musik!

Leichtfüßig, sportlich, jeder Ton hängt prägnant und plastisch in der Luft, dafür sorgt die vergleichsweise massige Lautsprecheranlage. Beim Hörer stellt sich nach wenigen Augenblicken Dankbarkeit ein: Stimmt, so klingt live gespielte Musik, von einem physisch anwesenden Künstler! Kein Stream!

Die Krise, erzählt Cameron Carpenter danach, sei existenziell, auch für ihn: „Es kann durchaus sein, dass alles, was ich bisher aufgebaut habe, verloren ist.“

Eine einzigartige Erfahrung für den Musiker

Unter klassischen Musikerinnen und Musikern gebe es aktuell zwei Kategorien: diejenigen, deren Karriere bereits zerstört sei, und diejenigen, die das noch nicht realisiert haben. Schock beim Zuhören: Dass es bereits so schlimm ist, überrascht dann doch

Seine gute Stimmung hat er aber noch nicht verloren. Vor Pflegebedürftigen zu spielen sei eine einzigartige Erfahrung, und so gerne er in der Philharmonie auftrete – an diesem Abend wäre es wieder so weit gewesen, mit den Goldberg-Variationen und Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ –, bekomme man hier noch mal ein völlig anderes Gespür für die Relevanz des eigenen Tuns.

Bemerkenswert: Da tritt jemand neunmal am Tag auf und hat doch die Zeit, sich zweifelnd und verletzlich zu geben.

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