zum Hauptinhalt
Zwei Diven, ein Gedanke. Angel Blue (links) und Catherine Malfitano.

© Jean-Louis Fernandez

Opernfestival Aix-en-Provence: Tanzen im Angesicht des Todes

Das Festival von Aix-en-Provence 2019 überrascht mit einer berührenden Bühnenversion von Mozarts „Requiem“ und einer doppeldeutigen „Tosca“.

Als vor 71 Jahren das Opernfestival in Aix-en-Provence aus der Taufe gehoben wurde, galt sein zentrales Anliegen der Pflege des Mozart-Repertoires. Längst ist das Unternehmen aber zum wichtigsten europäischen Opernfestival nach Salzburg und Bayreuth gewachsen. Aix gilt als Garant für höchste musikalische Qualität und die konsequente Einbindung von gemäßigten Neutönern – aber nicht unbedingt für Wagnisse in der Regie. So hielt es auch in den letzten 11 Jahren der künstlerische Leiter Bernard Foccroulle. Nun hat Pierre Audi die Intendanz übernommen, nachdem er unglaubliche 30 Jahre lang Intendant an der Amsterdamer Nationaloper war. Audi legt einen Neustart hin, der deutliche Akzente setzt, ohne freilich eine Revolution anzuzetteln.

Zur Eröffnung zeigt er Romeo Castelluccis unerhört subtile, souverän mit Assoziationen spielende Bühnenadaption von Mozarts „Requiem“ im Théâtre de l’Archevêché. Castellucci nähert sich der Totenmesse nicht mit der Erfindung einer Handlung, sondern mit einer Abfolge von Tableaus, die archaische, überzeitliche Bilder beschwören und zugleich im Jetzt und Hier stehen. Erinnerungen an die Vergänglichkeit werden wachgerufen mit der Einblendung von ausgerotteten Tier- und Pflanzenarten und Sprachen, zerstörten Kulturdenkmälern, Bauten und vergessenen Gebräuchen. Eine unendlich lange Reihe des Verschwindens. Am Schluss steht das Datum der jeweiligen Aufführung: Auch dieser Tag ist dann fast schon vorbei.

Raphaël Pichon, der Dirigent und Arrangeur des Abends, hat das Requiem überwiegend mit wenig Bekanntem aus Mozarts Feder angereichert. Und der Chor agiert auf der Bühne tanzend! Die hüpfenden und stampfenden Schrittfolgen erinnern an irische Volkstänze, die Kostüme an den Balkan, später an heutige Straßenkleidung.

Diese "Tosca" ironisiert den Diven-Kult - und feiert ihn zugleich

Für Puccinis „Tosca“ findet Christophe Honoré am gleichen Ort eine ästhetische Lösung, die kaum weiter entfernt sein könnte von Castelluccis Ritual. Denn der Filmregisseur spielt mit den Konventionen der italienischen Oper und stellt sowohl deren Starkult als auch ihr Dauer-Expressivo in den Mittelpunkt seiner sezierenden Arbeit.

Es gelingt ihm, das Genre Oper zu zerlegen, die Geschichte zu verfremden, mehrere Bühnenrealitäten parallel laufen zu lassen, den Diven-Kult zu ironisieren und gleichzeitig wieder zu feiern. Der wesentliche Kniff seiner Regie ist die Mitwirkung einer echten Diva alter Schule, Catherine Malfitano. Die 71-Jährige spielt sich selbst, mit einer gehörigen Portion Selbstironie und erstaunlich intakter Stimme. Ständig ist sie präsent auf der Bühne, überwacht Proben und Vorsingen ihrer schwarzen Schülerin Angel Blue, die ihr als Tosca nachfolgen soll. So oszilliert das Geschehen ständig zwischen der Erinnerung, einer nüchternen Produktionssituation und jenen Momenten, wo der Krimi alle Beteiligten mitreißt in eine andere Realität.

Dabei gelingen Honoré Momente von beklemmender Aktualität. Wenn Angel Blue ihr „Vissi d’arte“ singt, sitzt sie auf der Besetzungscouch, Scarpia ist ein Künstleragent, und die Vorzeige-Arie wird zur doppelten Pein. Auch die musikalische Ausführung ist über jeden Zweifel erhaben. Daniele Rustioni inspiriert das Orchestre de l’Opéra de Lyon zu lyrischem, differenziertem Puccini-Spiel, Angel Blues leuchtender Sopran ist eine ideale Tosca, großartig auch Joseph Callejas flammender Cavaradossi.

Netanjahu wird zur skurrilen Opernfigur

Als erste Uraufführung präsentiert Pierre Audi „Les mille endormis“, eine Kammeroper des aus Haïfa stammenden 36-jährigen Adam Maor, inszeniert vom Librettisten Yonatan Levy im Théâtre du Jeu de Paume. Die Handlung spielt in naher Zukunft in Israel, wo sich eine Netanjahu-Karikatur in einer strategisch schwierigen Position befindet und sich gemeinsam mit dem Staatssicherheitsdienst und seiner Assistentin Nourit entschließt, 1000 hungerstreikende politische Gefangene der letzten Intifada einschläfern zu lassen.

Doch die sedierten Palästinenser schleichen sich ins Unbewusste der jüdischen Traumwelt und bringen diese um den Schlaf. Der Komponist findet für diese absurde Konstellation gemäßigt moderne Klänge, angereichert mit arabischen Klangspuren, gesungen wird hervorragend, das Ensemble „United Instruments of Lucilin“ unter Leitung von Elena Schwarz spielt tadellos.

Gezeigt wird in Aix auch Andrea Breths Inszenierung von Wolfgang Rihms „Jakob Lenz“, die 2017 an der Berliner Staatsoper zu sehen war. Famos spielt das Ensemble Modern unter Ingo Metzmacher, in der Titelpartie beeindruckt erneut Georg Nigl.

Ivo van Hoves Inszenierung von Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, mit Esa-Pekka Salonen am Pult des Philharmonia Orchestra London, sorgt für saftig pulsierenden, üppig symphonischen Puls. Das bringt die Sänger stellenweise in Schwierigkeiten. Doch auch diese Produktion punktet mit hervorragenden Sängern wie Karita Mattila als Begbick, Annette Dasch als Jenny und Nikolai Schukoff als Jim Mahoney. Szenisch aber bleibt sie hinter den anderen zurück, weil van Hove allzu routiniert mit Videoprojektionen arbeitet und am Schluss deutliche Hinweise auf die französischen Gelbwesten aufscheinen lässt.

Regine Müller

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false