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Tod an der Küste. Mengele starb 1979 beim Baden im brasilianischen Städtchen Bertioga. Für seine Verbrechen wurde er nicht belangt.

© Fernando Santos/Wikipedia

Olivier Guez' Mengele-Roman: Im Kopf des Monsters

Nahsicht eines Massenmörders: Olivier Guez’ beklemmender Roman „Das Verschwinden des Josef Mengele“.

Der Skandal steckt schon im Titel: „Das Verschwinden des Josef Mengele“. Der Lagerarzt von Auschwitz, der monströse Menschenversuche unternommen und Zehntausende ins Gas geschickt hatte, starb, ohne für seine Verbrechen belangt worden zu sein. Er entkam allen Verfolgern. Genauer gesagt: Man ließ ihn entkommen. Deutsche Justiz- und Polizeistellen ermittelten halbherzig, sie gaben Mengeles Verwandten und Freunden, die sein Untertauchen in Südamerika finanzierten, dezent einen Wink, wenn eine Durchsuchung anstand. So blieb genug Zeit, die Spuren zu verwischen. Mossad-Agenten entdeckten den Massenmörder zwar in Brasilien, doch er konnte entwischen, weil sie die Beschattung wegen anderer Operationen unterbrechen mussten Bald darauf begann der Sechstagekrieg. Der Geheimdienst kümmerte sich fortan vor allem um Israels arabische Feinde. Alte Nazis zu jagen war nicht mehr dringlich.

Eine Schlüsselszene des Romans, den Olivier Guez über Mengeles Verschwinden geschrieben hat, gewissermaßen der Scheitelpunkt der Handlung, spielt auf Mengeles Hochzeitsreise. Der ehemalige SS-Hauptsturmführer, der sich noch immer als „biologischer Soldat“ versteht, hat die Witwe seines Bruders geheiratet, für die Hochzeitsvorbereitungen war er sogar heimlich in seine Heimat in der schwäbischen Kleinstadt Günzburg gereist. Im argentinischen Exil lebt er auf großem Fuß, als Leiter einer Schreinerei und Vertreter der väterlichen Agrarmaschinenfabrik hat er sein eigenes kleines Wirtschaftswunder erlebt.

Mengele besitzt einen Borgward Isabella, die Inkarnation des deutschen Wiederaufstiegs in seiner chromblitzendsten und elegantesten Form. Nun ist er mit Martha, seiner frisch angetrauten zweiten Frau, in die Anden gefahren und steht wie Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“ auf einem Berggipfel, „so glücklich, so stolz, in dieser gottverdammten Welt voller Trümmer und Ungeziefer, denn er hat die Freiheit, Geld und Erfolg, niemand hat ihn verhaftet und niemand wird es je tun.“

Geht das, einen NS-Haupttäter zum Romanhelden zu machen?

Höher hinaus geht es für Mengele jedoch nicht. Denn in Deutschland hat der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer einen Haftbefehl gegen ihn erwirkt, und in Argentinien wird ein weiterer folgen. Präsident Juan Perón ist gestürzt, el lider, der Mussolini und Hitler bewunderte und mithilfe alter, über die „Rattenlinie“ aus Europa entkommener Nazi-Kader sein Land zur militärischen Großmacht ausbauen wollte. Der „Lumpensammler“ hofft auf einen apokalyptischen Endkampf zwischen Amerikanern und Sowjets, aus dessen Trümmern er sein „Viertes Reich“ errichten möchte.

Einen Roman über Josef Mengele zu schreiben, ist heikel. Einen Haupttäter des NS-Regimes zum literarischen Helden zu machen, geht das? Zumal über dieses dämonische Phantom ohnehin bereits viele Texte und Filme in Umlauf sind. Guez, von dem auch das Drehbuch zum Film „Der Staat gegen Fritz Bauer“ stammt, hat in Deutschland, Argentinien und Brasilien recherchiert, er hält sich eng an die Fakten. Die Bibliografie im Anhang seines Buches, das in Frankreich ein Überraschungserfolg wurde und jetzt auch schon auf der „Spiegel“-Bestsellerliste steht, umfasst fünf Seiten. Doch Mengeles Leben, schreibt er, habe er nicht mit einer weiteren Biografie, sondern nur in Form eines Romans „möglichst nahekommen“ können.

„Das Verschwinden des Josef Mengele“ erinnert an Jonathan Littells skandalträchtigen Roman „Die Wohlgesinnten“, der aus der Perspektive eines fanatischen SS-Offiziers erzählt wird, und auch – minus der Ironie – an Jean Echenoz’ biografische Romantrilogie über Ravel, Zatopek und Tesla. Guez’ Roman ist in mancher Hinsicht eine Groteske, allerdings eine der gruseligen Art. Gruselig ist der Mann, sind seine Morde, die ihn in kurzen Auschwitz-Erinnerungen immer wieder einholen.

In Brasilien will Mengele seine biologische Mission fortsetzen

Immer wieder auch steht Mengele vor einem Spiegel, wie Echenoz beschreibt Guez das Altern seines Protagonisten, den körperlichen Verfall. Um sich zu tarnen, zeigt sich Mengele stets mit Hut. Er hat sich einen Schnauzbart wachsen lassen, der ihn, wie er bedauernd feststellt, wie einen „Hidalgo, einen Italiener, ja wie einen Argentinier“ erscheinen lässt. Der Kämpfer fürs Ariertum sieht nicht aus wie ein Arier.

Mengele, so wie Guez ihn fiktionalisiert, ist ein kleiner Geist und ein großer Hasser. Als er im Juni 1949 mit einem Schiff aus Genua in Buenos Aires eintrifft, ist er nicht bloß von den anderen Emigranten, „schlampigen Namenlosen“, angewidert, auch die Argentinier findet er sofort unsympathisch und untermenschenhaft: „Lumpenpack“. Er nennt sich jetzt Helmut Gregor und hält sich immer noch für einen „erstklassigen Genetiker“. Seine biologische Mission will der zweifach, in Medizin und Anthropologie promovierte Akademiker fortsetzen. Dafür hat er einen Koffer mit Aufzeichnungen, Proben und medizinischen Geräten dabei, herübergerettet aus dem „großen deutschen Zusammenbruch“.

Richtig auspacken wird Josef Mengele den Koffer nie, irgendwann wirft er ihn weg, panisch, weil er die Verfolger in seinem Nacken spürt. Als „Ingenieur der Rassen“ ist er nicht mehr gefragt, stattdessen hilft er gegen gute Bezahlung Töchtern aus reichen Familien, diskret „ihre Sünden loszuwerden“. Abtreibungen sind im streng katholischen Argentinien verboten, und als herauskommt, welches Gewerbe er betreibt, gerät der Todesdoktor in Bedrängnis.

Der KZ-Arzt Josef Mengele im Jahr 1956.
Der KZ-Arzt Josef Mengele im Jahr 1956.

© Wikipedia

Südamerika wird für Mengele zu einem „zum Unendlichen offenen Kerker“, aber erst einmal ist es seine Rettung, fast ein Paradies. Altnazis gibt es dort viele, keiner schämt sich für die Vergangenheit. In Buenos Aires stößt Mengele auf die Zeitschrift „Der Weg“, ein Monatsheft „zur Kulturpflege und zum Aufbau“, deren Autoren an der nationalsozialistischen Rückeroberung Deutschlands arbeiten. Im Dürer-Kreis, benannt nach dem Verlag, begegnet er Kameraden wie dem Kriegshelden Hans-Ulrich Rudel, bald ein enger Vertrauter, und dem holländischen SS- Propagandamann Willem Sassen.

Über Sassen lernt er Adolf Eichmann kennen, Deckname: Ricardo Klement. Während Mengele sich im Exil bedeckt hält über seine Vergangenheit, brüstet sich Eichmann damit, den Tod von sechs Millionen Juden organisiert zu haben. Leider seien es nur sechs Millionen gewesen, deswegen habe Deutschland den Krieg verloren. Die Star-Verbrecher mögen einander nicht, Eichmanns Geltungssucht macht Mengele wütend, und Eichmann verachtet Mengele wegen dessen niedrigem Dienstrang. Für den Mossad hatte Eichmann Priorität. Als er aufgespürt, entführt, in Jerusalem vor Gericht gestellt und gehenkt wird, ist Mengele bestürzt. Als nächstes, fürchtet er, wird es ihm an den Kragen gehen.

Mengele stirbt nach einem Herzinfarkt beim Baden

Man kommt Mengele in diesem Buch mitunter unangenehm nah, manchmal hat man fast den Eindruck, in seinen Kopf gucken zu können, wenn er seine innerlichen Hassattacken bekommt oder sich schlotternd fürchtet. Der Roman wechselt zwischen Innen- und Außenperspektive, dramaturgisch funktioniert das meistens gut, allerdings sind einige Teile schlecht miteinander verfugt. Einmal schlägt Mengele eine Zeitung auf, und es folgt ein mehrseitiger Bericht über Perón und seine Innenpolitik.

Josef Mengele stirbt 1979 im brasilianischen Küstenort Bertioga, nach einem Herzinfarkt beim Baden. Unfassbar ist, dass die Verbrechen des Lagerarztes ungesühnt blieben, überhaupt wirkt einiges unfassbar in dieser Geschichte. Mengeles Lehrer, der NS-Rassenhygieniker Otmar von Verschuer, steigt nach dem Krieg an der Universität Münster zum Dekan auf. Ihm hatte Eichmann aus Auschwitz Augen, Skelette und Organe von Ermordeten geschickt. „Das Verschwinden des Josef Mengele“ ist ein beklemmendes Buch.

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