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Laura (Penélope Cruz) und ihre Jugendliebe Paco (Javier Bardem) sehen sich nach Jahren wieder.

© Prokino

"Offenes Geheimnis" im Kino: Unter der Sonne Kastiliens

Schiefe Klassenverhältnisse: Penélope Cruz und Javier Bardem im Provinzkrimi „Offenes Geheimnis“ des iranischen Regisseurs Asghar Farhadi.

Von Andreas Busche

Die Kirche am Dorfplatz gehört zum Inventar jeder spanischen Kleinstadt. Wie sich Touristen die iberische Provinz eben so vorstellen: geschäftiges Treiben in Cafés, warmes Licht umschmeichelt die karge Landschaft, Bauern bei der Weinlese und zweimal täglich läuten die Kirchenglocken. Der Glockenturm hat in Asghar Farhadis „Offenes Geheimnis“ einen besonderen Stellenwert, er hütet das titelgebende Geheimnis. Es befindet sich eingeritzt im Dachgebälk, imprägniert von Taubendreck, Vogelfedern und Staub. Alle wissen es (so der Originaltitel), keiner spricht drüber.

Der Glockenturm ist noch aus anderen Gründen von öffentlichem Interesse. Er müsste dringend saniert werden, doch der Gemeinde fehlt das Geld. Der Pfarrer lässt diese Bemerkung beiläufig während der Predigt fallen, denn der Ort hat seltenen Besuch. Laura (Penélope Cruz) ist mit ihrem Sohn Diego (Ivan Chavero) und ihrer Teenager-Tochter Irene (Carla Campra) zur Hochzeit der jüngeren Schwester Ana angereist. Sie hat ihrer Heimat vor Jahren den Rücken gekehrt und mit ihrem wohlhabenden Mann Alejandro (Ricardo Darín) und Kindern in Buenos Aires eines neues Leben begonnen.

Die Frauen in der Schneiderei nehmen diese soziale Aufwärtsmobilität anerkennend zur Kenntnis: Die ältere Schwester schnappt sich einen Argentinier, die jüngere einen Katalanen. Doch die Geschäfte laufen schlecht, darum ist Alejandro zu Hause geblieben. Die Wirtschaftskrise hat Argentinien ebenso wenig verschont wie Spanien.

Ökonomische und familiäre Krisen überschneiden sich

Lauras Besuch ist gleichzeitig auch eine Reunion mit Jugendliebe Paco (Javier Bardem), der das Weingut der Familie übernommen hat – zu einem Dumpingpreis, wie der Patriarch nicht müde wird zu betonen. Ihre Namen sind im Turm verewigt, Irene erfährt zufällig von der Vorgeschichte ihrer Mutter. Geheimnisse sind Farhadis Spezialität: Seine Filme drehen sich um familiäre Verflechtungen, deren Enthüllung komplizierte gesellschaftliche Konstellationen und Absprachen offenlegt. Es sind im Kern procedurals, ihre Dramaturgie ähnelt Ermittlungsverfahren. Im Mittelpunkt seiner Oscar-Filme „Nader und Simin“ und „The Salesman“ stehen tatsächlich Gerichte, zivilrechtliche beziehungsweise moralische.

In „Offenes Geheimnis“ schlagen sich solche Prozesse der Wahrheitsfindung nun im Krimi-Genre nieder, denn plötzlich steht eine Lösegeldforderung ins Haus. Irene wird während der Hochzeitsfeier entführt, die Kidnapper verlangen 300 000 Euro. Die Familie schaltet einen pensionierten Polizisten ein, Alejandro reist nach Spanien. Dass die Forderung via SMS an Laura und Pacos Frau Bea (Barbara Lennie) geht, erregt erstes Misstrauen. Schnell steht die Idee im Raum, dass Paco seine Anteile am Weingut verkauft, um der insolventen Familie zu helfen – zunächst als Finte, bald als realistische Option. Wer aber würde von dieser Lösung profitieren?

Zwei Krisen, eine ökonomische und eine familiäre, überschneiden sich in „Offenes Geheimnis“. Farhadi arbeitet oft mit solchen Zuspitzungen, sie bringen gesellschaftliche Prozesse in Bewegung, Ressentiments an die Oberfläche. „Ein Klassenbewusstsein bestimmt europäische Gesellschaften nicht mehr so stark wie früher“, erklärt der iranische Regisseur im Gespräch während des Cannes Festivals im Mai. „Aber auch wenn wir uns dies nicht bewusst machen, ist es uns zu eigen, Menschen anhand ihrer Herkunft zu beurteilen.“ In Krisensituationen käme dieses Denken wieder zum Ausdruck. „Denk daran, wo du herkommst“, warnt der Patriarch einmal seinen ehemaligen Angestellten Paco.

Zwischen Arthousekino und Starkino

„Offenes Geheimnis“ ist Farhadis zweite europäische Produktion und man spürt, wie er nach seinen iranischen Filmen, die überwiegend in Wohnungen spielen, die Weite sucht – die Kamera führt Almodóvar-Veteran José Luis Alcaine. Aber er bedeutet für Farhadi auch die nächste Karrierestufe, „Offenes Geheimnis“ befindet sich an der Schnittstelle von Arthouse- und internationalem Starkino. Was zur Folge hat, dass man die Charaktere nicht mehr so unbelastet sieht wie noch in seinen iranischen Filmen. Die Starpersonae von Cruz und Bardem überstrahlen die Figuren, der Twist des Films ist im Grunde schon in der unbewussten Rezeption angelegt, weil die Stars auch privat ein Paar sind. Farhadi meint dazu, er habe die Rollen für Cruz und Bardem geschrieben, jede Interpretation liege in der Fantasie des Publikums.

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Doch auch er erliegt ihrer Faszination. Bardem wirkt etwas albern als proletarischer Winzer, der die Trauben mit bloßen Händen ausdrückt; Cruz läuft meist attraktiv verheult durchs Bild. „Offenes Geheimnis“ funktioniert als Sozialstudie leidlich, doch  Farhadi fällt auch immer wieder zurück auf die Konventionen des Krimis – selbst als die dramatische Wendung längst offensichtlich ist. Einmal versammeln sich alle in „CSI“-Manier um einen Computer, um Drohnen-Aufnahmen der Hochzeit zu studieren: Die Szene wirkt unfreiwillig komisch. Farhadi betont, dass er sorgfältig recherchiere und sogar in Spanien gelebt habe, um Kultur und Mentalität zu verstehen. Aber irgendwie scheint er weder dort noch im Genre angekommen zu sein. Die Klassenverhältnisse im Iran lassen sich jedenfalls nicht ohne Weiteres auf Spanien übertragen.

Kino darf keinen Manifest-Charakter haben

Mit „Offenes Geheimnis“ positioniert sich Farhadi international, trotzdem will er weiter im Iran drehen: „Ich glaube, ich werde in meinem Land noch gebraucht." Als schwierig empfindet er vielmehr, dass man im Westen Erwartungen an ihn als iranischen Regisseur hat. Doch das Kino dürfe keinen Manifest-Charakter annehmen, erklärt er. „Jeder Film, der sich mit gesellschaftlichen Fragen auseinandersetzt, ist automatisch politisch, weil man sich auch die Politik ansehen muss, um eine Gesellschaft zu beschreiben.“

In „Offenes Geheimnis“ misslingt dieser Transfer, anders als in Farhadis früheren Familiendramen. Der Film funktioniert eher als burleskes Sittenbild der ländlichen Provinz, „größere gesellschaftliche Zusammenhänge“, wie er sagt, erschließen sich unter der Sonne Kastiliens nicht. Farhadi ist nur auf der Durchreise, wie seine Figuren.

In 11 Kinos, OmU: FSK, Hackesche Höfe, Kulturbrauerei, Neues Off, Odeon

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